Wir wollen ein vielfältiges, diskriminierungssensibles und inklusives Magazin machen. Doch dann haben wir im letzten Heft eine wichtige Perspektive komplett vergessen. Hier zeigen wir, wie wir aus solchen Fehlern lernen.
Neue Narrative soll eine vielfältige Organisation sein. Deswegen haben wir 2019 unsere eigenen, verbindlichen Quoten für die Zusammensetzung unseres Teams beschlossen.
Quoten sind eine effektive Möglichkeit, struktureller Benachteiligung entgegenzuwirken. Sie demonstrieren nicht nur den guten Willen einer Organisation, sondern dienen dazu, die Lücke zwischen Ist und Soll zu sehen und tatsächlich zu schließen. Seit März 2023 haben wir darum eine neue, erweiterte und genauere Quote.
Zum einen trennen wir jetzt chronische Krankheiten von Behinderungen – einfach, weil es zwei unterschiedliche Dinge sind. Außerdem achten wir darauf, mehr Menschen aus nicht-akademischen Familien einzustellen, um Klassismus entgegenzutreten.
An einigen Stellen erfüllen wir die neue Quote, an anderen nicht ganz: Statt 25 Prozent der Mitarbeitenden haben nur 22 Prozent bei uns eine (familiäre) Migrationsgeschichte oder identifizieren sich als BIPoC, und statt 10 Prozent leben nur 7 Prozent unserer Mitarbeitenden mit Behinderung.1
Quoten sind ein guter Zielmaßstab, allerdings müssen wir sie ständig im Blick behalten und an ihrer Umsetzung dranbleiben. Letztes Jahr haben wir dafür explizit die Rolle Equity geschaffen, die darauf achtet, dass wir uns an unsere eigenen Vorsätze halten. Außerdem hilft sie uns dabei, auch in unserer täglichen Arbeit diskriminierungsfreier zu handeln.
Einerseits kümmert sich die Rolle Equity also um ein diskriminierungssensibles und diversitätsorientiertes Recruiting und Hiring – dadurch stellen wir sicher, dass marginalisierte Personen Teil unserer Organisation werden. Darüber hinaus wollen wir mit ihrer Hilfe eventuell vorhandene diskriminierende Strukturen und Verhaltensweisen bei Neue Narrative abbauen und gleichzeitig Wissen und Sensibilität für das Thema Diskriminierung aufbauen. Denn selbst wenn eine Organisation guten Willens ist, können diskriminierende Aussagen oder Handlungen vorkommen.
Nie wieder schlechte Meetings!
Abo + Geschenk holenEine vielfältige Organisation ≠ ein vielfältiges Magazin
Ein Medienunternehmen wie Neue Narrative muss nicht nur intern auf Diversität, Inklusion und Gleichstellung achten, sondern auch in seinen Inhalten. „Bei Diversity geht es nicht nur um Chancengerechtigkeit oder gesellschaftliche Repräsentation. Mehr Vielfalt bedeutet: neue Zielgruppen, ein breiteres Publikum, vor allem einen besseren, erfolgreicheren Journalismus. […] Es geht dabei um Glaubwürdigkeit, um Vertrauen und vieles mehr“, schreibt das Bündnis Medienvielfalt.2
In der Vergangenheit haben wir im Magazin immer wieder explizit die Perspektiven von marginalisierten Menschen thematisiert, z.B. in der Geschlechterkolumne und in Artikeln über ableistische, klassistische oder altersdiskriminierende Strukturen in der Arbeitswelt. Außerdem haben alle Teammitglieder Spannungen eingebracht, wenn ihnen auffiel, dass wir diskriminierendes oder exkludierendes Verhalten oder Denken reproduzieren. So ist das Magazin peu à peu vielfältiger geworden – dachten wir jedenfalls.
Was ist eine Haltung?
Lies hier weiterWir haben Perspektiven vergessen
In unserer letzten Ausgabe ging es um das Thema „Raum“. Wir haben uns gefragt, wo wir arbeiten wollen und wie Arbeitsräume in Zukunft gestaltet sein müssen, damit sie für Menschen und Organisationen gut sind. Dabei wurde klar: Das Büro der Zukunft besteht aus vielen verschachtelten, analogen und digitalen Räumen, und die Verantwortung der Organisation endet nicht an ihren (analogen) Außenwänden. Daniela Schubert hat daraufhin auf LinkedIn einen Beitrag geschrieben.3
Danielas Kritik auf LinkedIn
„Ich hatte mich über die neue Ausgabe von Neue Narrative gefreut. Es geht um ein unglaublich wichtiges Thema: „Raum – Wo wollen wir arbeiten?“ Aber mir fehlt ein wichtiger Aspekt: die räumliche und digitale Barrierefreiheit.
Unternehmen brauchen Remote-Arbeit als Default, denn es sind lokale, gesundheitliche und finanzielle Privilegien, wenn ich mir aussuchen kann, (von) wo und wie ich arbeiten möchte.
Das betrifft Menschen, die
- neurodivergent sind
- eine Sehschwäche haben oder blind sind
- Hörprobleme haben oder gehörlos sind
- eine körperliche Be_Hinderung haben
- temporär beeinträchtigt sind durch Krankheit, Unfall etc.
- Kinder haben und z.B. alleinerziehend sind
- Angehörige pflegen
…“
Für viele Menschen ist es absolut notwendig, remote arbeiten zu können – sei es, weil sie schlicht nicht ins Büro kommen können oder die Arbeit im Büro ihr psychisches oder körperliches Wohl gefährdet.
Danielas Kritik hat uns auf eine offensichtliche Lücke hingewiesen, von der wir uns im Nachgang fragen, wie wir sie übersehen konnten. Wir haben die Kritik zum Anlass genommen, unsere Prozesse noch einmal genau anzuschauen und dafür zu sorgen, dass das Magazin-Team kontinuierlich an Diversität, Gleichstellung, Inklusion und Zugehörigkeit arbeitet.
Warum Remote-Arbeit kein Privileg ist
Lies hier weiterWie konnte uns dieser Fehler passieren?
Zunächst haben wir analysiert, wie es eigentlich dazu kam, dass wir die Perspektive von Menschen, die nicht im Büro arbeiten können, im letzten Heft nicht mitgedacht haben.
Dass wir diese Perspektiven vergessen haben, ist peinlich, gerade weil neurodivergente4 Menschen und Menschen mit Behinderung, aber auch Personen mit Care-Verantwortung in unserer Gesellschaft immer wieder ausgeblendet und nicht mitgedacht werden. Das führt überhaupt erst dazu, dass sie marginalisiert und mit Barrieren konfrontiert werden.
Wir haben genau das reproduziert, weil wir es nicht ernst genug genommen und das Thema dem Zufall überlassen haben: Menschen haben das Team verlassen, Übergaben wurden nicht sorgfältig gemacht und wiederkehrende Aufgaben nicht in Rollen abgebildet. Dabei gab es bei NN schon Prozesse, die sicherstellen sollten, dass wir möglichst viele Perspektiven mitdenken: Wir hatten die Rolle „Bullshit Diskriminierung“, die auf jeden Artikel vor dem Druck einen Blick geworfen hat. Außerdem haben wir damit begonnen, explizit marginalisierte Perspektiven im Heft zu zählen. Das Problem: Wir haben zwar eine Zielsetzung formuliert, aber nicht dafür gesorgt, dass wir sie auch erfüllen. So gab es nur eine vage Verantwortung, die bei allen und niemandem lag.
Nach Danielas Kritik wurde für uns deutlich: Eine vage Zielsetzung allein genügt nicht, wir brauchen eine Rolle und klare Accountabilities. Das Thema muss fest im Prozess verankert werden.
Diversität braucht Kontinuität
1. Wir haben die Rolle Vielfaltsperspektiven geschaffen.
Bei NN erschaffen wir Rollen dann, wenn bestimmte Tätigkeiten kontinuierlich geschehen müssen und es dafür keine*n Zuständige*n gibt. Dieses Mal: Wir müssen regelmäßig sicherstellen, dass wir in jeder Ausgabe möglichst viele verschiedene Perspektiven mitdenken und keine vergessen. Dafür haben wir die Rolle Vielfaltsperspektiven im Magazin-Team geschaffen.
2. Durch eine Input-Liste erkennen wir unsere Wahrnehmungslücken.
Zum Start unseres Magazinprozesses schreibt die Rolle Equity außerdem seit dieser Ausgabe eine Liste mit Impulsen. Diese Liste wird im Magazin-Kick-off, also beim ersten Meeting zum jeweiligen Heft, geteilt. Sie dient dazu, unsere Texte im Prozess immer wieder daraufhin zu überprüfen, ob wir verschiedene Perspektiven mitdenken.
Drei Inputs zum Thema Fehlerkultur
Nachdem wir das Thema für die nächste Ausgabe festgelegt haben, sammelt die Rolle Equity eine Liste von Impulsen, damit wir das Thema möglichst perspektivenreich und diskriminierungsfrei abbilden können. Hier sind drei dieser Impulse für unsere Fehler-Ausgabe:
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Es macht einen Unterschied, wer den Fehler macht. Für Personen, die strukturell diskriminiert werden, ist es schwieriger, als qualifiziert wahrgenommen zu werden. Häufig müssen sie mehr um Anerkennung kämpfen und dürfen weniger Fehler machen als andere. Gleichzeitig sind sie stärker gefährdet, ihre finanzielle und psychologische Sicherheit, ihre soziale Anerkennung und sogar ihren Job zu verlieren, wenn sie etwas falsch machen.
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Der sogenannte white gaze kann sich als vorurteilslastiger, prüfender und kontrollierender Blick auf BIPoC äußern. Hier werden Stereotype reproduziert, indem Fehler erwartet werden. Dieser Blick kann Fehler sehen, wo keine sind, Fehler hervorheben, die sonst übersehen worden wären, und sogar Fehler hervorrufen, die ohne ihn nicht entstanden wären.
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Wer definiert eigentlich Fehler? Fehler bedeutet so viel wie „Unrichtigkeit“, also etwas, das vom Richtigen abweicht. Häufig beanspruchen privilegierte Menschen die Deutungshoheit darüber, was ein Fehler oder Fehlverhalten ist. Das kann beispielsweise dazu führen, dass sich FLINTA*, die sexuell übergriffiges Verhalten erleben, erst bei anderen rückversichern, ob diese das Verhalten ebenfalls als übergriffig einstufen. Sie haben gelernt, ihre eigene Wahrnehmung erst von anderen, häufig cis-männlichen Personen validieren zu lassen.
3. Wir zählen Perspektiven im Heft.
Die Quote bei NN hilft uns dabei, ein vielfältiges Team aufzubauen. Seit Anfang 2022 tracken wir damit außerdem, wie vielen Menschen mit verschiedenen marginalisierten Perspektiven wir im Magazin Raum geben. Bisher erfüllen wir unsere Quote nicht.5 Das liegt unter anderem daran, dass wir bislang keine Rolle hatten, die explizit dafür verantwortlich war. Doch eine Quote ist nur sinnvoll, wenn sie auch umgesetzt wird. Zu den Accountabilities der Rolle Vielfaltsperspektiven gehört deshalb, die Perspektiven zu zählen. So können wir aus nicht erfüllten Quoten zukünftig konkrete Maßnahmen ableiten.
Danielas Kritik hat uns dazu angeregt, unserem Magazinprozess eine neue Rolle hinzuzufügen und den Fokus auf Vielfaltsperspektiven schärfer zu stellen. Diversität muss kontinuierlich betrieben werden, z.B., indem bestimmte Rollen die Accountability haben, das Thema im Blick zu behalten. Quoten sind ein guter Anfang, aber sie führen noch nicht zu vielfältigen Perspektiven im Magazin. Dafür braucht es längerfristige, informierte Auseinandersetzung und Personen, die eigens dafür Zeit und Ressourcen zur Verfügung gestellt bekommen.
FUßNOTEN
- 1
Menschen haben keine besonderen Bedürfnisse, sondern werden in unserer Gesellschaft behindert, sie haben also eine Behinderung. Wir orientieren uns bei unserem Wording an Leidmedien.
Übrigens: Um die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsleben zu fördern, verpflichtet das Sozialgesetzbuch alle Arbeitgeber*innen mit mehr als zwanzig Arbeitsplätzen dazu, mindestens fünf Prozent davon mit Arbeitnehmer*innen zu besetzen, die eine schwere Behinderung oder Vergleichbares haben. Wer das nicht tut, muss eine Ausgleichszahlung leisten. Auch Neue Narrative leistet diese. ↩
- 2
Bündnis Medienvielfalt: Warum Medien mehr Vielfalt zum Überleben brauchen (2021). ↩
- 3
Der Post von Daniela war im Original länger. ↩
- 4
Neurodivergenz ist kein medizinischer Begriff, sondern soll wertungsfrei beschreiben, dass das Gehirn dieser Menschen anders funktioniert. Einige Neurodivergenzen sind z.B. ADHS, Autismus, Legasthenie und Downsyndrom. ↩
- 5
Dass wir die Quote nicht erfüllen, liegt auch daran, dass wir von den Freelancer*innen, die mit uns zusammenarbeiten, nicht immer genau wissen, welchem Geschlecht sie sich zugehörig fühlen, ob sie BIPoC oder Nichtakademiker*innenkind sind oder mit chronischer Krankheit oder Behinderung leben. ↩