Was kommt nach der Karriereleiter? Darum geht es in unserer aktuellen Ausgabe!

Faktencheck

Gefühlte Wahrheiten

Macht positives Denken glücklich? Ist Wut schlecht für die Gesundheit? Sind Männer weniger emotional? Und heilt die Zeit alle Wunden?

Emotionen sind universell.

Insbesondere der Psychologe Paul Ekman argumentierte, dass es gewisse Basisemotionen gebe, die jeder Mensch unabhängig von sozialen und kulturellen Faktoren habe. Sie seien flüchtig, instinktiv und insbesondere über die Mimik eindeutig erkennbar. Dieses Konzept klingt erst mal sehr einleuchtend – und gilt inzwischen als widerlegt. Eine tiefe Verankerung bestimmter, voneinander klar abgrenzbarer Emotionen, die grundlegend für das menschliche Erleben sind, gibt es nicht. Das hat unter anderem die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett in ihrer Theory of Constructed Emotion umfassend dargelegt.

Sie hält Emotionen für dynamisch konstruierte Phänomene, deren Ursprung nicht auf spezifische Neurone (oder Areale) beschränkt ist und deren Erleben durch unsere jeweiligen Erfahrungen geprägt wird. Oder einfach gesagt: Ein Gefühl ist, was du als solches empfindest. Das bedeutet auch: Zwar gibt es gewisse (kulturell geprägte) Ähnlichkeiten zwischen Emotionen, aber so, wie es keine identischen Menschen gibt, gibt es keine identischen Emotionen.

Was ist dann aber mit Babys, die ihre Freude durch ein Lächeln ausdrücken? Tatsächlich gebe es einige angeborene physiologische Reaktionen auf die Wahrnehmung innerer Körperzustände, so Barrett. Die bewegten sich aber auf einer Matrix von Valenz (angenehm/unangenehm) und Erregung (niedrig/hoch). Ein glucksendes Babylachen ist Barrett zufolge kein Ausdruck großer Freude, sondern eines angenehmen Gefühls recht hoher Erregung. Die Einordnung als Freude und die damit verbundenen Konnotationen entstünden erst im Laufe des individuellen Lernprozesses und der Sozialisierung.

Zeit heilt alle Wunden.

In alten Sprichwörtern steckt häufig eine tiefere Wahrheit, sonst würden sie sich nicht über Jahrhunderte halten. Dieses hier stammt wohl aus Voltaires Kurzroman Der Freimütige aus dem Jahr 1767. Das Digitale Wörterbuch der Deutschen Sprache erläutert den Inhalt dieses Satzes so: „langsam, aber stetig lässt ein seelischer Schmerz infolge einer Enttäuschung, eines Trauerfalls o. Ä. nach, bis er irgendwann vollkommen vergangen ist“. Verschiedene Studien bestätigen das größtenteils, wobei es je nach Art der Verletzung begleitende Faktoren gibt: Frauen, die frühe Fehlgeburten erlitten, hatten in der Regel nach einem Jahr „ein inneres Gleichgewicht“ wiedererlangt – mangelnde Unterstützung in der Partnerschaft war jedoch ein Risikofaktor für erhöhte Ängste bei einer erneuten Schwangerschaft. Leute, deren Vertrauen enttäuscht wurde, zum Beispiel weil ihr*e Partner*in fremdging, konnten ihm*ihr umso besser vergeben, je mehr Zeit vergangen war. Menschen überwinden die Trauer über den Tod eines Familienmitglieds oder eine*r enge*n Freund*in mit der Zeit – und das umso schneller, je spiritueller sie sind. Es gibt allerdings auch Wunden, die auf Lebenszeit – und sogar darüber hinaus – nicht heilen: Nicht verarbeitete Traumata können an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, auf epigenetischer wie auf psychosozialer Ebene. Der Fachbegriff dafür ist transgenerationale Trauma-Transmission.

Positives Denken macht glücklich.

Auch wenn Sigmund Freud die ein oder andere komische Ansicht über die menschliche Psyche hatte (Stichwort: Penisneid), lag er doch mit ein paar Dingen richtig. Zum Beispiel erkannte er bereits im 19. Jahrhundert, dass es auf Dauer krank macht, unangenehme Gefühle zu unterdrücken. Das ist inzwischen bewiesen; aber genau darum geht es beim sogenannten positiven Denken. Die Idee dahinter ist, ein „neues Mindset zu kultivieren, … das eine andere Energie ausstrahlt …“ und Lösungen statt Probleme fokussiert. Denkst du zum Beispiel: „Ich bin so glücklich, mir widerfährt nur Gutes“, dann ändert das „deine Frequenz auf der Stelle“ – das sind alles Zitate aus einem populären Kurzvideo von @lauren_bulloch. Denn auf Tiktok erlebte positives Denken unter dem Schlagwort Lucky Girl Syndrome 2023 eine kleine Renaissance. Die Übergänge zu Manifestationen sind dabei fließend: Wenn man solche Glaubenssätze nur oft genug wiederhole, dann „magnetisiert das ganz andere Dinge in dein Leben“, so Bulloch. Zum Beispiel: „Meine Traumwohnung, mehr als 100.000 Follower*innen auf Tiktok, eine neue Freundesgruppe mit sechs Girls, die alle rollerskaten …“ (kein Scherz).

Das Problem ist nur: Wenn sich die ganzen Wünsche nicht erfüllen, wer ist dann daran schuld? Naja: man selbst. Denn dann hat man das positive Denken eben nicht tief genug verankert, nicht wirklich dran geglaubt usw. Tatsächlich konnte in einer Experimentalstudie gezeigt werden, dass Menschen mit geringem Selbstbewusstsein sich eher schlechter fühlen, wenn sie zu positivem Denken angeregt werden. Bei selbstbewussten Menschen war der Effekt gering positiv, hielt aber nur kurz an. Viel besser, schreibt der Psychotherapeut Günter Scheich, sei stattdessen althergebrachter Optimismus, denn der baue auf Fähigkeiten, realistischen Einschätzungen und darauf, „dass negative Gefühle und Fehler und Zweifel im Leben eines Menschen wichtig sind“.

Wut ist schlecht für die Gesundheit.

Wenn ich an Wut denke, denke ich ans HB-Männchen, dabei war Fernsehwerbung für Zigaretten schon bei meiner Geburt längst verboten. Irgendwie mag ich aber diesen Wüterich, der auf den Boden stampft, rumkrakeelt und schließlich beinahe „in die Luft geht“, bevor er von sanfter Stimme, vor allem aber anhand tödlichen Tabakrauchs, wieder auf den Boden der Tatsachen gelangt. Anhand dieser legendären Werbefigur lassen sich zwei Dinge über die Wut ablesen. Erstens: Wir verwechseln häufig die zugrunde liegende Emotion „Wut“ mit aggressivem Verhalten. Und zweitens: Wut hat ein schlechtes Image, sie gilt als unschick und sollte vermieden werden. Vermutlich ist es eine Kombination aus beiden Punkten, die der Wut den Ruf eingebracht hat, der Gesundheit zu schaden.

In Japan korreliert Wut, das ist die überraschende Erkenntnis einer Studie, mit einer guten Gesundheit. Die Autor*innen mutmaßen, das liege daran, dass es in der japanischen Kultur Menschen in hohen Machtpositionen vorbehalten ist, ihre Wut zu äußern. Im Okzident wüteten dagegen eher Menschen mit geringem sozio-ökonomischen Status – und die hätten eben häufiger Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Aber so wie sich in Bezug auf das Rauchen ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen hat, seit das HB-Männchen über die Bildschirme flimmerte, erfahren auch scheinbar negative Gefühle wie die Wut eine Neubewertung. Da ist es nicht verwunderlich, dass im sogenannten Westen nun erste Studien erscheinen, die auch der Wut positive Effekte beimessen.

Männer sind weniger emotional.

„Männer haben's schwer, nehmen's leicht / Außen hart und innen ganz weich / Werd'n als Kind schon auf Mann geeicht / Wann ist ein Mann ein Mann?“ Mit Herbert Grönemeyers „Männer“ ist schon fast alles zu dieser gefühlten Wahrheit gesagt – und das, obwohl das Lied schon über 40 Jahre alt ist.1 Lange Zeit wurden Frauen aus der neurologischen und biomedizinischen Forschung ausgeschlossen, u.a. weil es hieß, sie seien aufgrund ihres Hormonzyklus ihren schwankenden Emotionen unterworfen. Eine Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift Nature veröffentlicht wurde, resümiert dagegen, dass dieser Effekt vernachlässigbar ist: Gefühlsschwankungen betreffen Männer und Frauen gleichermaßen. Aber Männer versuchen häufiger, ihre Gefühle zu unterdrücken. Das liegt zum Teil daran, dass viele Männer nicht gelernt haben, wie sie ihre Gefühle wahrnehmen und nach ihnen handeln: „Außen hart und innen ganz weich.“ Aber keinen Zugang zu den eigenen Gefühlen zu haben, kann schwere Folgen haben. So sind Männer, die in hohem Maße dem Rollenbild von Eigenständigkeit und Stärke entsprechen, besonders suizidgefährdet.

Dumme Menschen sind glücklicher.

Ernest Hemingway schreibt in seinem Roman Der Garten Eden: „Happiness in intelligent people is the rarest thing I know.“ Der Gedanke klingt zunächst nicht dumm: Wer sein Unglück oder das Elend in der Welt nicht begreift, der muss doch glücklich sein. Und wer viel grübelt, könnte meinen, er*sie wäre ohne allzu viel Nachdenkens besser dran. Um das zu überprüfen, müssten wir erst mal definieren, was Dummheit überhaupt ist. Es ließe sich sagen: Dummheit ist ein Mangel an Intelligenz. Dumme Frage, aber: ist jetzt vielleicht eine dumme Frage, aber: Was ist Intelligenz? Die einzige wissenschaftlich breit anerkannte Definition ist: Intelligenz ist die Leistungsfähigkeit im Problemlösen. Wer also besonders schlecht im Problemlösen ist, soll besonders glücklich sein? Schwer vorstellbar. Und tatsächlich gibt es entsprechende Studien, die mal den Zusammenhang persönlichen Glücks mit kognitiver Intelligenz, mal mit emotionaler Intelligenz untersuchen – und zum Schluss kommen, dass Intelligenz das Glücksempfinden erhöht! Auch das Vorurteil, einige neurodivergente Menschen, etwa solche mit Trisomie 21, seien allgemein glücklicher, ist falsch: Sie haben sogar ein erhöhtes Risiko für psychische Erkrankungen.

Nicht wenige halten Der Garten Eden übrigens für Hemingways schlechtestes Buch.

Gefühle kann man nicht trainieren.

Sind Gefühle in all ihrer Komplexität und Vielschichtigkeit da, auch wenn wir sie nicht beschreiben können? Oder sind Gefühle Phänomene, die sich erst in ihrer Beschreibung manifestieren? Mit Lisa Feldman Barrett würde ich zu Letzterem tendieren. Von ihr, wir kennen sie bereits aus den Faktenchecks zu den Basisemotionen und der Wut, stammt auch das Konzept der emotionalen Granularität: Je emotional feinkörniger jemand ist, desto genauer kann er*sie Stimmungen beschreiben. Grobkörnige sagen schlicht: Ich fühle mich schlecht. Feinkörnige können unterscheiden, ob sie enttäuscht, wütend, gereizt, verlegen, beschämt, verbittert, müde oder überarbeitet sind. Was das bringt? Feinkörnige können ihre Emotionen besser regulieren und sind empathischer. Wer sich nach einem 1:1 mit einem Kollegen mies fühlt, wird auf Basis dieser Stimmung nicht viel tun können, außer vielleicht, die Person künftig zu meiden. Wer sein Gefühl genau benennen kann und weiß, dass er sich z.B. schuldig fühlt, kann sich entschuldigen. Das Gute ist: Jede*r kann die Auflösung der eigenen Gefühlswelt erhöhen. Denn das emotionale Vokabular lässt sich erweitern und trainieren, zum Beispiel mit Romanen und Filmen oder Achtsamkeitsübungen. Dadurch trainiert man nicht nur die Wahrnehmung und Einordnung von Gefühlen, sondern fühlt plötzlich, was vorher nur vage im Körper herumwaberte.

Stress steigert die Leistung.

Anfang des 20. Jahrhunderts gaben die amerikanischen Psychologen Robert Yerkes und John Dodson Mäusen zwei Türen zur Auswahl: Beim Durchqueren der dunkleren Tür erwartete sie ein elektrischer Schock, bei der helleren nicht. Immer wieder wurden die Mäuse vor die Entscheidung gestellt, entweder durch die dunkle oder die helle Tür zu gehen. In einigen Versuchsaufbauten unterschieden sich die Türen nur minimal voneinander, bei anderen war der Unterschied moderat und bei wieder anderen war der Kontrast extrem. Bei dem Aufbau mit hohem Kontrast war ein relativ starker Schock nötig, um den Mäusen beizubringen, durch die hellere Tür zu gehen. Aber: Unterschieden sich die Türen nur geringfügig, verschlechterte ein starker Schock die Leistung der Mäuse. So kamen die beiden Forscher auf das Yerkes-Dodson-Gesetz: Je schwieriger die Aufgabe, desto weniger Stress führt zu optimaler Leistung. Je leichter die Aufgabe, desto mehr Stress ist nötig. Dieses Gesetz wird bis heute gerade in Management-Ratgebern häufig zitiert, dabei konnte nie nachgewiesen werden, dass diese Gesetzmäßigkeit tatsächlich existiert. Gut belegt ist dagegen, dass akuter, also kurzweiliger, situationsbedingter Stress, tatsächlich die kognitive Leistungsfähigkeit steigern kann. Chronischer Stress wiederum beeinträchtigt die Leistung erheblich und kann zu psychischen Krankheiten führen. In Deutschland fühlen sich 25 Prozent der Berufstätigen dauerhaft überlastet.

FUßNOTEN

  • 1

    Wenn du etwas sehen möchtest, das aus der Zeit gefallen ist: Schau dir doch diesen grandiosen TV-Mitschnitt aus den 1980er-Jahren an, in dem Grönemeyer bei jeder Zeile seine sauber gecheitelten Haare dramatisch hin- und herwirft.

Das Cover unserer Fehler-Ausgabe auf einem Tablet

Sichere dir eine Gratis-Ausgabe!

Lust, mal in unserem Magazin zu blättern? In der Ausgabe, die wir dir als PDF zuschicken, geht es um das Thema Scheitern. Niemand spricht gerne über Fehler. Trotzdem passieren sie jeden Tag. Wie lässt sich aus Fehlern lernen?

Jetzt neu: Unser Newsletter für eine Wirtschaft, die sich kümmert

Wir zeigen, wie Arbeit gerechter, fürsorglicher und lebensnaher gestaltet werden kann – mit Beispielen aus der Praxis, pointierten Fragen und Mut zur Veränderung.