Wegen Kriegen, Klimakrise und politischer Unsicherheit verlieren viele Menschen die Zuversicht. Organisationen können dem etwas entgegensetzen, indem sie der Sorge Raum geben, gemeinsam Orientierung schaffen und realistisch in die Zukunft blicken.
Fast die Hälfte der Deutschen (46 Prozent) glaubt, dass es ihnen in zehn Jahren schlechter gehen wird als heute.1 Um die Zukunft ihrer Kinder sorgen sich noch erheblich mehr: Vor allem gesellschaftliche Polarisierung (70 Prozent) und Umweltverschmutzung (65 Prozent) machen Eltern große Angst.2 Und laut der Studie Climate change distress and impairment in Germany machen sich 62 Prozent der Befragten Sorgen um ihre Zukunft, wenn sie an den Klimawandel denken.3
Klimakrise, politische Unsicherheit oder Kriege lösen bei uns eine kollektive Zukunftsangst aus. Doch ihre Auswirkungen spüren wir ganz individuell. Die Neurowissenschaftlerin Maren Urner beschreibt die psychischen Folgen von Angst: „Manche Menschen reagieren bei Angst mit einem kompletten Rückzug ins vermeintlich Private.“ Aber das sei eine Illusion, so Urner: „Alles, was ich tue, all meine Entscheidungen, mein Essen, meine Mobilität, meine Arbeit, ist politisch bestimmt. Nicht-Handeln setzt ein Signal und überlässt es anderen, Zukunft aktiv zu gestalten.“
Anstatt uns zu isolieren, sollten wir uns konstruktiv mit Zukunftsangst auseinandersetzen. Die Organisationen, in denen wir arbeiten, können dafür zentrale Orte sein. Denn hier verbringen wir einen Großteil unserer Lebenszeit und treffen mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Menschen, die ähnliche Sorgen haben.


Ein Magazin mit Gefühl: Unsere neue Ausgabe ist da!
Abo sichernWir brauchen mehr gemeinsame positive Zukunftsbilder
Dafür müssen Organisationen Räume schaffen, in denen Menschen sich trauen, über das, was in ihnen vorgeht, zu sprechen. Urner ist davon überzeugt, dass der Umgang mit Emotionen, auch mit Ängsten, ein selbstverständlicher Bestandteil der Arbeitswelt werden muss. Denn: „Nichts ist ferner von der Realität als die Überzeugung, dass wir Entscheidungen ohne Emotionen treffen können“, sagt sie.
Dabei darf der Umgang mit Angst nicht in endlosen Sorgenketten oder Schuldzuweisungen enden. Stattdessen sollten wir uns fragen: „Wie kann es weitergehen?“ Das ist gar nicht so einfach. „Es ist sehr anstrengend, weil ich mir etwas überlegen muss, das noch gar nicht existiert“, sagt Urner. Deshalb reagiert unser Gehirn oft ein wenig träge – es möchte Energie sparen. Dabei brauchen wir genau diese Denkarbeit. Denn um ins Handeln zu kommen, brauchen wir eine klare Vorstellung davon, wo wir hinwollen.
Denn der Mensch sei ein „Zukunftswesen“, erklärt Zukunftsforscherin Lena Papasabbas. Umso gravierender sei es, wenn die positive Vorstellung für die Zukunft fehlt: „Auf individueller Ebene bedeutet ein fehlendes Zukunftsbild eine Depression.“ Dabei sei die aktuelle Unsicherheit, die viele Menschen spüren, durchaus begründet. Wir leben in einer Zeit vielfacher Krisen. Um handlungsfähig zu bleiben, ist es wichtig, nicht nur die Probleme zu sehen, sondern die darin liegenden Gestaltungsräume.
Auf individueller Ebene bedeutet ein fehlendes Zukunftsbild eine Depression.
Lena Papasabbas
Mit unsicheren Zukünften umgehen lernen
Denn Zukunft ist nicht determiniert. Deswegen sprechen Zukunftsforscher*innen bewusst von Zukünften. Das soll verdeutlichen: Wenn wir über das Kommende nachdenken und Szenarien entwickeln, gibt es nicht die eine Zukunft, sondern viele mögliche. Hier setzt das Konzept der Futures Literacy an, das stark von der UNESCO vorangetrieben wird. Ziel ist es, Menschen dazu zu befähigen, Unsicherheit nicht nur auszuhalten, sondern als Chance für neue Möglichkeiten zu begreifen.4 Dahinter steckt die Grundidee, dass wir den Umgang mit unsicheren Zukünften lernen können wie Lesen und Schreiben. Es geht darum, erklärt die Zukunftsforscherin Christina Moser, diese Zukünfte bewusst als Werkzeuge für Entscheidungen in der Gegenwart zu nutzen.
Der Zukunftsforscher Stefan Bergheim, der an der UNESCO-Publikation Transforming the Future: Anticipation in the 21st Century mitgewirkt hat, definiert sechs Teilkompetenzen5 von Futures Literacy. Dazu gehören:
1. Kompetenz für Komplexität und Ungewissheit
Verstehen und akzeptieren, dass lebendige Systeme komplex sind und nicht vollständig vorhergesagt oder kontrolliert werden können.
2. Kompetenz für Multiple Zukünfte
Wissen, dass komplexe Systeme mehrere mögliche Zukünfte hervorbringen können. Diese sind abhängig von unseren Entscheidungen, den Dynamiken und unerwarteten und unwahrscheinlichen Ereignissen mit erheblichen Auswirkungen (sog. Black-Swan-Ereignisse).
3. Kompetenz für Imagination und Annahmen
Zukunftsbilder entspringen unserer Vorstellungskraft und sind von unserer Sozialisierung und kulturellen Narrativen geprägt. Das sollten wir reflektieren: Was halte ich für wahrscheinlich, weil ich es evidenzbasiert einschätze? Was glaube ich, weil bestimmte Zukunftserzählungen medial dominieren?
4. Kompetenz für Perspektivwechsel und Experimente
Zukünfte lassen sich spielerisch erkunden, etwa in Simulationen oder Zukunftswerkstätten.
5. Kompetenz für Neuartigkeit und Emergenz
Ein Gespür zu entwickeln, wie Neues unerwartet entsteht, und lernen, kreativ damit umzugehen.
6. Kompetenz für Handlungsfähigkeit und Umsetzung
Die Fähigkeit, aus Zukunftsbildern Handlungsschritte für die Gegenwart abzuleiten. Die Zukunftsbilder geben Orientierung: Welche Szenarien halte ich für wünschenswert und was kann ich tun, damit ich in diese Richtung gehen kann?
Futures Literacy bedeutet auch, sich mit unterschiedlichen Zukunftsbildern und den dahinter liegenden Annahmen auseinanderzusetzen, von wünschenswerten über wahrscheinlichen bis hin zu alternativen, sogar Science-Fiction-artigen Szenarien. In dieser Bandbreite zu denken, trainiert die Vorstellungskraft und zeigt Handlungsmöglichkeiten für positive Zukunftsszenarien auf. „Je mehr wir über Futures Literacy verfügen, desto mehr erkennen wir, was alles möglich sein kann“, sagt Moser. So können wir uns verstärkt auf Lösungen statt auf Probleme fokussieren und Handlungsschritte ableiten.
Typische Futures Literacy Methoden
Zukünfte in Organisationen verhandeln
Wenn Organisationen sich mit Zukünften auseinandersetzen, beobachtet Zukunftsforscherin Senem Wicki noch immer viel Unsicherheit. Sie begleitet und berät seit rund zwanzig Jahren Organisationen bei Transformationsprozessen und dem strategischen Umgang mit Zukünften. Sie sagt: „Viele Organisationen verfügen zwar über theoretisches Wissen über zukünftige Entwicklungen, schaffen es jedoch nicht, dieses Wissen zusammenzuführen und umzusetzen.“
Wenn Wicki mit Städten, Unternehmen oder Stiftungen zusammenarbeitet, um Zukunftsstrategien zu entwickeln, geht es deshalb zuerst darum, den mentalen Raum zu öffnen. „Selbst in Führungsgremien dominiert häufig ein lineares, eindimensionales Zukunftsbild, das von Prognosen, nicht von denkbaren Alternativen, geprägt ist.“ Das sei wenig zielführend, denn oft versteift es sich auf Sätze wie „Diese Technologie kommt eh in fünf Jahren“ oder dem Denken in Entweder-oder-Kategorien. Das bremst, denn „einer solchen Zukunftsvorstellung als Fortsetzung der Gegenwart entspringt selten Neues“, sagt Wicki.
Um Zukunftsfragen in Organisationen ganzheitlich zu betrachten, sei es wichtig, in Workshops verschiedene Stimmen und Perspektiven zur Sprache kommen zu lassen. Zum Einstieg nutzt Wicki häufig die Methode des Futures Triangle nach Sohail Inayatullah. Die Übung regt dazu an, unterschiedliche Einflussfaktoren auf Zukunftsszenarien sichtbar zu machen: Welche Kräfte treiben Veränderungen an? Welche halten uns zurück? Welche positiven Zukunftsbilder ziehen uns an? Die Methode beruht auf dem Austausch möglichst konkreter Alltagsbeobachtungen und erfordert keine Vorkenntnisse. Sie fördert ein gemeinsames Verständnis dafür, wie Entwicklungen unser Handeln beeinflussen und welche Möglichkeiten darin liegen.

So könnt ihr mit dem Futures Triangle arbeiten
1. Schritt: Einführung in das Futures Triangle
Zeichnet ein Dreieck auf und beschriftet die Ecken mit: „Pull of the Future“, „Push of the Present“, „Weight of the Past“. Erklärt die drei Kräfte des Futures Triangles:
1. Pull of the Future (Sog der Zukunft):
Welche positiven Zukunftsbilder motivieren mich? Wofür lohnt es sich, Veränderungen anzugehen? Was zieht mich nach vorne?
2. Push of the Present (Stoß der Gegenwart):
Welche aktuellen Entwicklungen drängen uns zum Handeln? Was können wir nicht mehr ignorieren? Welche Chancen entstehen gerade jetzt?
3. Weight of the Past (Gewicht der Vergangenheit):
Was hält uns zurück oder verlangsamt uns? Welche Ängste oder Sorgen belasten uns? Welche alten Muster wirken nach?
2. Schritt: Stille Reflexion
Wählt nun ein Thema aus, das ihr mit der Methode erkunden wollt. Versucht, eure Frage konkret und nah am Arbeitsalltag zu halten. Eine Frage könnte sein: Wie gestalten wir unsere Arbeit klimagerechter?
Jede Person notiert auf Post-its für ein Whiteboard oder in einem digitalen Workspace Stichpunkte zu den jeweiligen Fragen des Futures Triangle.
1. Pull of the Future: z.B. Arbeitsplätze, die nicht nur klimaneutral sind, sondern aktiv zur Regeneration beitragen
2. Push of the Present: z.B. neue Regelungen zur Nachhaltigkeitsberichterstattung, steigende Energiekosten, Fachkräftemangel
3. Weight of the Past: z.B. gewohnte Arbeitsstrukturen (tägliches Pendeln) oder Kostendruck
Sammelt eure Antworten und gruppiert sie thematisch.
3. Schritt: Gemeinsame Analyse der Kräfte des Futures Triangles
-
Welche Pull-Kräfte können euch in unsicheren Zeiten Orientierung geben?
(Viele Mitarbeitende wollen sich regelmäßig über die regenerative Arbeitswelt austauschen und dafür eine Gruppe bilden.) -
Welche Push-Kräfte könnt ihr als Energie nutzen, statt sie als Bedrohung zu erleben? (Angesichts steigender Energiekosten lässt sich durch den Umstieg auf Regenerativität ein Wettbewerbsvorteil erlangen.)
-
Mit welchen Weight-Kräften können wir bewusster und konstruktiver umgehen? (Der Kostendruck ist nicht so schlimm wie befürchtet, weil es Fördermöglichkeiten gibt. Wir können das zum Anlass nehmen, um Arbeitsstrukturen anzupassen.)
Anschließend nennt jede Person eine konkrete Sache, die sie aus der Übung mitnimmt, entweder eine veränderte Perspektive oder eine Idee für das weitere Vorgehen (z.B. Klimabudget fürs Team berechnen, eine externe Beratung zu Fördermöglichkeiten einholen).
Nach dieser Übung können sich die Teilnehmenden jeweils einen Handlungsschritt überlegen, den sie innerhalb der nächsten vier Wochen umsetzen können. Wie Lena Papasabbas betont, kommt es nicht auf Perfektion an. Es müssen auch keine großen Projekte sein – ganz im Gegenteil. „Es ist oft wirksamer, mit überschaubaren nächsten Schritten zu starten.“ So sehen wir schneller Erfolge und fühlen uns selbstwirksamer. Und das sind Gefühle, die wir brauchen, um motiviert und innerlich handlungsfähig zu bleiben.
Wir sind nicht allein
Lena Papasabbas spricht im Umgang mit Unsicherheit und Zukünften auch von einer Haltung der „radikalen Zuversicht“ und erläutert: „Zuversicht heißt nicht, dass alles super wird, sondern dass ich mir zutraue, aus allem etwas Gutes zu machen, auch wenn es holprig wird.“
Ein wahrer Zuversichtskiller sei das Meckern. Darauf könnt ihr am Arbeitsplatz achten. Ihr könnt zum Beispiel ein Signal einführen, ein Handzeichen oder Emoji, wenn ein Teammitglied ins Meckern verfällt. Oder ihr versucht es mit einem meckerfreien Tag. An dem könnt ihr euch vor jeder Kritik diese Fragen stellen: Ist das konstruktiv? Habe ich einen Lösungsvorschlag? Hilft das dem Team weiter?
Papasabbas nennt einen weiteren unterschätzten Hebel für mehr Zuversicht: die Gemeinschaft. „Jeder Mensch beschäftigt sich mit Zukunftsthemen“, sagt sie – egal ob es Nachhaltigkeit oder ein besseres Miteinander in der Organisation ist. Deshalb ist es sinnvoll, sich mit anderen Menschen zu verbinden. Das ist auch emotional entlastend. In Zeiten, in denen sich viel um Selbstoptimierung und Eigenverantwortung dreht, überschätzen wir oft, was wir alles mit uns allein ausmachen müssen, während wir unterschätzen, wie stark Strukturen und das Miteinander wirken.

Diese Strukturen und Verbindungen können wir auch am Arbeitsplatz stärken. Wer im Homeoffice arbeitet, kann sich gezielt mit Kolleg*innen zum virtuellen Mittagessen oder Kaffee verabreden. Auch die gemeinsame Arbeit an kleinen Projekten kann das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken: Sei es das Erstellen einer Playlist für den nächsten Teamtag, die Verschönerung des Büros oder die Organisation kurzer ehrenamtlicher Einsätze. Wenn wir uns angesichts der globalen Herausforderungen allein oder überfordert fühlen, vergessen wir oft, dass wir bereits über eine entscheidende Fähigkeit verfügen, sie zu bewältigen.
Denn niemand muss die Wucht der Zukunft allein schultern: „Unser Erfolgsrezept als Menschheit war nie die körperliche Überlegenheit, sondern die Fähigkeit zur Kollaboration“, sagt Maren Urner. Unsere Stärken liegen im Zusammenarbeiten, Fühlen und Denken. Das brauchen wir heute mehr denn je. Doch das erzählen uns die gängigen Geschichten nicht. Statt kollektiver Erfolge dominieren Heldenerzählungen, Einzelpersonen, die alles retten. „Aber es ist nie diese eine Person“, sagt Urner. Veränderungen sind immer Teamarbeit. Wenn wir das verinnerlichen, wächst auch wieder unsere Zuversicht: Gemeinsam können wir mehr gestalten, als wir zunächst glauben.
Unser Erfolgsrezept als Menschheit war nie die körperliche Überlegenheit, sondern die Fähigkeit zur Kollaboration.
Maren Urner
Takeaways
-
Angesichts globaler Krisen verlieren viele Menschen die Zuversicht. Organisationen können dabei mehr sein als bloße Arbeitsorte und emotionale Räume schaffen, um gemeinsam über die Zukunft nachzudenken.
-
Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Wir können aber trainieren, besser mit Unsicherheit umzugehen. Die Kompetenz Futures Literacy hilft dabei, Handlungsspielräume zu erkennen.
-
Zusammenarbeit ist unsere größte Stärke im Umgang mit Unsicherheit.
Inputgeberinnen
Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin und Professorin für Nachhaltige Transformation an der FH Münster.
Lena Papasabbas ist Co-Founder und Managing Editor bei The Future:Project und Autorin des Buches Radikale Zuversicht.
Christina Moser hält mit foryoursight – Christina Moser Consulting Vorträge und berät Organisationen zum Thema strategische Vorausschau. Außerdem ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bayerischen Foresight-Institut der Technischen Hochschule Ingolstadt.
Senem Wicki ist Mitinhaberin des Zukunftsbüros kühne wicki/ Future Stuff mit Sitz in Zürich.
Zum Weiterlesen und Weiterhören
- Geleitete Meditation, um eine positive Zukunft zu visualisieren von Deutschlandfunk Nova
- Futures Literacy Playbook von der UNESCO
FUßNOTEN
- 1
RedaktionsNetzwerkDeutschland: Knapp die Hälfte der Deutschen glaubt, in zehn Jahren schlechter zu leben als heute (2023) ↩
- 2
Statistisches Bundesamt: Welche der folgenden Dinge bereiten Ihnen Angst bzw. Sorgen, wenn Sie an die Zukunft Ihres/r Kindes/r denken? (2021) ↩
- 3
Frontiers in Public Health: Climate change distress and impairment in Germany (2024) ↩
- 4
- 5
Stefan Bergheim: On the Competence of Futures Literacy(2024), S. 7–9 ↩