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Fokus-Ausgabe

Aufmerksamkeit, bitte!

  • Text: Laura Erler
  • Illustration: Felix Bork

Ablenkung lauert überall. Vor allem, seit Aufmerksamkeit zum Geschäftsmodell geworden ist. Organisationen sollten Strukturen schaffen, die unseren Fokus schützen und fördern. Dazu gehört auch Zeit für Zerstreuung und Langeweile.

Im Jahr 1675 erließ der britische König Karl II. eine Proklamation zur Schließung der wenige Jahre zuvor in Großbritannien entstandenen Kaffeehäuser. Er fürchtete, zu wache Bürger*innen könnten seinen Umsturz planen.1 Die Angst war nicht ganz unbegründet. Tatsächlich wird die Einführung der Kaffeehäuser von manchen Historiker*innen als eine Ursache für die Aufklärung und die Französische Revolution gesehen, da sich hier Intellektuelle zum philosophischen und politischen Austausch trafen.

Auch Friedrich der Große griff in das Kaffeegeschäft ein und setzte Menschen als „Kaffeeschnüffler“ zum Auffinden illegaler Röstereien ein.2 Weil das Trinkwasser verunreinigt war, konsumierte die Bevölkerung zu dieser Zeit vorzugsweise Bier und Wein, die sich vor allem aufgrund des Alkoholgehaltes lange hielten. Durch den Konsum von Kaffee wurden die Menschen wacher und konzentrierter.

Heute ist Koffein eine der am häufigsten konsumierten Stimulanzien weltweit. Es hat nicht nur unsere Trinkgewohnheiten, sondern auch unsere Arbeitskultur verändert, indem es ein Zeitalter der Produktivität und des Fokus einläutete. Doch was ist Fokus?

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Unterschiedliche Fokusebenen

Der Begriff Fokus ist der Physik entnommen, wo er den Brennpunkt von gebündelten Lichtstrahlen bezeichnet. Wörtlich aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet er „Herd“ oder „Feuerstelle“. Wenn wir von Fokus sprechen, meinen wir damit das Bündeln unserer Aufmerksamkeit.

Es gibt zwei verschiedene Arten von Fokus, für die wir folgende Begriffe vorschlagen: Beim Mikrofokus konzentrieren wir uns auf eine bestimmte Aufgabe, etwa das Bearbeiten einer Excel-Tabelle oder das Anfertigen einer Stickarbeit. Er ermöglicht uns, Aufgaben effizient und präzise zu erledigen. Der Makrofokus bezeichnet die Konzentration auf das Wesentliche. In der Arbeitswelt bedeutet das: Prioritäten und Strategien festlegen, um unsere Zeit nicht mit irrelevanten Aufgaben zu verschwenden.

Achtsamkeit ist eine dem Buddhismus entlehnte Form des Fokus. Achtsam zu sein heißt, den Geist im gegenwärtigen Moment zu bündeln und eine bewertungsfreie Offenheit für die gesamte Umwelt zu entwickeln. Diese Art von Fokus ermöglicht es, uns mit unserer Umgebung und den Menschen darin zu verbinden.

Mikrofokus: Ein Wanderer schaut durch ein Fernglas und nur ein Punkt ist scharf, Makrofokus: Landkarte mit Wanderpfad und Route, die die wichtigsten Punkte und Ziele markiert; Achtsamkeit: Wanderer betrachtet die gesamte Landschaft, Schönheit der Umgebung
Drei verschiedene Ebenen von Fokus

Wie entsteht und vergeht Aufmerksamkeit?

Aufmerksamkeitsentscheidungen werden in den Schaltkreisen der Amygdala getroffen – einem kleinen Teil unseres Gehirns, der an allen emotionalen Bewertungen beteiligt, aber beispielsweise auch für die Risikoabwägung zuständig ist. Es gibt zwei Systeme: das schnelle Bottom-up-System, das unwillkürlich und reizbasiert agiert, und das viel langsamere Top-down-System, das wir willentlich ansteuern können.3

Das Bottom-up-System übernimmt die meisten Entscheidungen, da es unser Überleben im Laufe der Evolution gesichert hat. Eine schnelle Reaktion konnte unseren Vorfahren das Leben retten – das erklärt, warum wir uns so schnell ablenken lassen. Auch heute erregt ein aufblinkendes Handy sofort unsere Aufmerksamkeit, selbst wenn wir uns intensiv auf ein Buch konzentrieren wollen – nur dass die Nachrichten auf unserem Handy selten lebensrettend sind.

Auch heute erregt ein aufblinkendes Handy sofort unsere Aufmerksamkeit, selbst wenn wir uns intensiv auf ein Buch konzentrieren wollen – nur dass die Nachrichten auf unserem Handy selten lebensrettend sind.

Ablenkung lauert überall. Externe Ablenkungen wie Geräusche, herumfliegende Insekten und klingelnde Telefone werden ebenso vom schnellen Bottom-up-System verarbeitet wie interne Ablenkungen in Form von Gedanken, Sorgen oder Müdigkeit. Im Vergleich zu 1942 schlafen Menschen in westlichen Ländern heute durchschnittlich eine Stunde weniger.

Das Schlafdefizit ist einer der Gründe für brain fog, einer speziellen Form der Konzentrationsstörung, und für local sleep, bei dem Teile des Gehirns im Schlafzustand sind, obwohl die Person wach ist. Dr. Sandra Kooij, Expertin für ADHS bei Erwachsenen, sagt, dass Menschen im Globalen Norden auch deshalb vermehrt zu ADHS neigen, weil sie zu wenig schlafen und das Gehirn nachts die am Tag angehäuften schädlichen Stoffwechselprodukte nicht abbauen kann, die sie „brain-cell poop“ nennt.4

Sokrates’ Smartphone

Viele von uns verbringen heute den ganzen Tag damit, die Aufmerksamkeit zwischen verschiedenen Geräten, Tabs, Programmen und Bildschirmen zu rotieren. Der US-amerikanische Wirtschaftsjournalist Nicholas Carr argumentiert in seinem Buch The Shallows daher, das Internet untergrabe unsere Fähigkeit zu tiefer Konzentration und zu kritischem Denken. Aber gibt es das Problem wirklich erst seit dem Internet? Und können wir heute weniger fokussieren als früher?

Schon vor dem digitalen Zeitalter standen neue Medien immer wieder in Verdacht, den Fokus zu stören. Sokrates äußerte Bedenken gegenüber der Schrift, da er glaubte, dass sie das menschliche Gedächtnis schwächen und zu einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit Wissen führen würde.5 Ein paar Jahrhunderte später stand der Buchdruck aus denselben Gründen in der Kritik. Seit der Industrialisierung beschleunigte sich das Lebenstempo, und im 20. Jahrhundert wurden Radios, Fernseher und das gute alte Festnetz-Telefon der Ablenkungen bezichtigt.

Der dänische Professor Sune Lehmann analysierte Bücher aus 1880 und aktuelle Quellen und entdeckte, dass Themen heute schneller wechseln, woraus er schloss, dass unsere Aufmerksamkeitsspanne sinkt.6 Twitter-Diskussionen verkürzten sich von 17,5 Stunden (2013) auf 11,9 Stunden (2016). Auch Nachrichten verbreiten sich schneller und über mehr Kanäle. Während 1986 die konsumierbaren Informationen über Printmedien, Radio und TV zusammengenommen täglich 40 Tageszeitungen pro Person entsprachen, waren es 2007 durch den Zuwachs an Kanälen wie Social Media schon 174 Zeitungen.7

Anders als früher tragen wir diese „Zeitungen“ ständig in unserer Hosentasche herum. Und sie erinnern uns alle fünf Minuten durch Klingeln und Benachrichtigungen daran, was wir noch lesen müssen. Johann Hari schreibt in Stolen Focus, nicht die Geräte selbst seien das Problem, sondern die Geschäftsmodelle hinter den Anwendungen. Unternehmen, die dadurch Geld verdienen, dass sie unseren Fokus anzapfen, als wäre er eine unendliche Ressource, seien ein systemisches Problem.

Die wichtigste Kennzahl für TikTok, Instagram oder auch LinkedIn ist das Engagement. Daher sind Benachrichtigungen, Pings und „Likes“ so designt, dass die positiven Reize eine Dopaminausschüttung in unserem Belohnungszentrum auslösen und wir uns diesen Schub immer wieder holen wollen.8 Eine Studie von 2017 zeigt, dass allein die Anwesenheit des Smartphones im selben Raum unsere kognitiven Ressourcen beansprucht.9 Voller Fokus ist also nur möglich, wenn das Smartphone ausgeschaltet oder in einem anderen Raum ist.

Die Kosten für weniger Fokus

Das ständige Wechseln zwischen Aufgaben und Tools, vom E-Mail-Postfach zu Slack, zu Google, wird als „Context Switching“ bezeichnet. Dummerweise verschwenden wir jedes Mal Verarbeitungszeit im Hirn, um uns wieder neu zu fokussieren, was als Switch Cost Effect bezeichnet wird. Weitere Probleme von zu viel Ablenkung sind, dass wir mehr Fehler machen, weniger kreative Ideen produzieren und weniger gut lernen und Probleme lösen.10

Nicht nur als Individuen, sondern auch als Gesellschaft haben wir einen begrenzten Fokus. Je mehr Zeit wir verdaddeln, desto weniger Zeit bleibt, uns auf wichtige Probleme wie die Klimakrise oder die Stärkung unserer Beziehungen zu konzentrieren.11 Analog gilt das auch für unsere Organisation: Wenn wir uns im Team ständig gegenseitig mit vermeintlichen Kleinigkeiten unterbrechen, bleibt uns immer weniger Zeit für unsere eigentlichen Projekte und Aufgaben.

Trotz Ablenkung konzentriert

Doch es gibt auch Faktoren, die unsere Konzentration fördern können. Kognitionswissenschaftler*innen erforschten im Zweiten Weltkrieg die Aufmerksamkeit von US-amerikanischen Radarbeobachtern, die stundenlang wachsam auf die Radare für feindliche Flugzeuge achten mussten. Sie fanden heraus: Konzentration ist sogar bei starker Müdigkeit auch über Stunden möglich – wenn die Motivation hoch ist.12

Ein Beispiel dafür ist eine besondere Art der gesteuerten Aufmerksamkeit: der Flow. Im Flow-Zustand sind wir so absorbiert von einer Aufgabe, dass wir die Selbstwahrnehmung verlieren und die Tätigkeit als belohnend empfinden, weil wir keinen Platz fürs Grübeln haben. Der amerikanisch-ungarische Psychologe Mihály Csíkszentmihályi beschreibt den Flow als „optimale Erfahrung“, wenn man an der Schnittstelle von Fähigkeiten und Herausforderungen agiert, wodurch weder Überforderung noch Langeweile auftritt. Forscher*innen beschreiben Flow neurowissenschaftlich als einen besonderen Erregungszustand, bei dem die Hirnareale gut koordiniert sind und moderat erhöhte Werte des Stresshormons Cortisol aufweisen.13

Wie schaffen wir ein gutes Umfeld für fokussiertes Arbeiten? Die Ratgeber-Literatur ist voll von Büchern wie How to Break Up with Your Phone, mit Tipps für digitalen Detox und Grenzziehung, und es gibt unzählige Apps, um unser digitales Suchtverhalten zu kontrollieren.

Ein wichtiger Gegentrend zum Context Switching und Tab-Hüpfen sind Konzepte wie Monotasking, die Pomodoro-Technik oder Deep Work. Deep Work – im Gegensatz zu „Shallow Work“ – beschreibt einen Zustand intensiver Konzentration, der komplexe Aufgaben ermöglicht, die tiefes Denken und Problemlösungen erfordern. Autor Cal Newport empfiehlt in seinem Buch Deep Work, sich täglich mehrere Stunden für konzentriertes Arbeiten ohne Kommunikationskanäle zu blocken. Sicherlich sind mehrere Stunden für die meisten Menschen unrealistisch. Aber der Grundgedanke bleibt: Für unterbrechungsfreie Zeiten müssen wir uns aktiv Räume schaffen.

Manche Führungskräfte schwören auf beruhigende Atemübungen oder Meditation. Morgens zehn Minuten die Geistespräsenz zu trainieren, anstatt sich den Arbeitsspeicher direkt mit E-Mails und Instagram-Storys vollzustopfen, soll sich positiv auf unseren Fokus auswirken.14

Tipps und Techniken zur Selbstorganisation gibt es ebenfalls viele: To-do-Listen-Apps, die Getting-Things-Done-Methode, die Eisenhower-Matrix oder SMART-Goals – all das sind Tools, um unseren Mikrofokus und Makrofokus beizubehalten.

Es gibt nur einen Haken daran, die Verantwortung für Fokus dem Individuum zuzuschieben: Wir arbeiten nicht in einem Vakuum. Unser riesiger Produktivitätsbücherstapel, unsere Supertools und das beste To-do-System nützen nichts, wenn es Ablenkungen oder unklare Prioritäten in der Organisation gibt. Leider grätscht genau in unserem Flow-Zustand der*die Chef*in mit einer eiligen Extraaufgabe dazwischen. Damit wir gemeinsam den richtigen Fokus verfolgen und konzentriert arbeiten können, braucht es gemeinsame Rahmenbedingungen.

Im Team den Fokus auf Fokus legen

Wenn Fokus ein systemisches Problem ist, dann können wir es in der Organisation auch lösen, denn auf dieses System haben wir Einfluss. Das Wichtigste, das Organisationen bieten müssen, ist ein klarer Makrofokus. Viele Unternehmen arbeiten zwar mit OKRs, haben aber viel zu viele Fokusthemen und priorisieren nicht ausreichend. Wer pro Quartal fünf hochpriorisierte Hauptziele und zehn Nebenprios hat, hat in Wahrheit keine Prioritäten. Den Fokus schärft ihr durch Reduzierung. Wenn ihr nur eine einzige Kennzahl zur Messung eurer Fortschritte verwenden dürftet, welche wäre das? Stellt euch auch regelmäßig die Frage, was aktuell nicht im Fokus eurer Organisation steht, kommuniziert das und siebt Aufgaben aus, die an diesem Fokus vorbeigehen.

In Sachen Mikrofokus können Unternehmen auf vielen Ebenen unterstützen – angefangen bei den Regelungen zur Arbeitszeit. Feldstudien aus Island zeigen: Eine verkürzte Arbeitswoche mit nur vier Tagen kann zu mehr Produktivität und einem höheren Wohlbefinden der Angestellten führen. Ein Beispiel für mehr Fokus durch weniger Arbeitsstunden ist, dass bei Microsoft in Japan die Produktivität durch die 4-Tage-Woche um 40 Prozent angestiegen ist. Allerdings hat Arbeitszeitverkürzung Grenzen. Wenn die Arbeit von fünf Tagen plötzlich in zwei gequetscht wird und dadurch Pausen und der Feierabend wegfallen, ist das sicher nicht gesund.15

Wie ihr Ablenkung und Unterbrechungen umgehen könnt, ist abhängig von eurer Organisation und Branche. Für manche Berufsgruppen sind Unterbrechungen Teil des Jobs bzw. unerlässlich, wenn sie wichtige Informationen für die Arbeitsabläufe beinhalten, etwa bei Hotelpersonal oder Pflegekräften und Ärzt*innen.

Wenn ihr allerdings in einem Bereich arbeitet, der Fokus-Zeiten zulässt, schafft die Rahmenbedingungen. Könnt ihr eventuell Meetings reduzieren oder festlegen, dass jede Woche drei Stunden Deep Work allein oder in Workathons stattfinden sollten? Das Unternehmen HubSpot hat etwa das Konzept „Maker Time“ eingeführt, also einen Block für Fokusarbeit. Verbreitet sind inzwischen auch meetingfreie Tage, wie sie etwa Asana und Zapier eingeführt haben. Bei Basecamp heißt das dann „No-Talk Thursdays“.

Die Veranstalter von „All things digital“ stellten bereits 2005 das WLAN auf ihrer Konferenz ab, und einige Unternehmen im Silicon Valley verbieten Laptops und Smartphones in Meetings, weil sie bemerkt haben, dass ihre eigenen Produkte die Mitarbeiter*innen ablenken. Zieht gemeinsam Grenzen gegen digitale Ablenkung und redet darüber, wie ein achtsamer Umgang mit der Aufmerksamkeit der Kolleg*innen am Arbeitsplatz aussieht.

Wer pro Quartal fünf hochpriorisierte Hauptziele und zehn Nebenprios hat, hat in Wahrheit keine Prioritäten.

Freilauf statt Fokus

Schließlich können wir es mit dem Streben nach möglichst viel Fokus auch übertreiben und müssen aufpassen, dass wir bei dem Fokusthema nicht in Effizienzfetischismus verfallen. Fokusarbeit ist nur ein Aspekt einer gesunden Arbeitskultur. Übermäßige Konzentration erschöpft die Schaltkreise im Gehirn. Das kann Energie rauben und dazu führen, dass wir impulsiver, weniger hilfsbereit und kooperativ sind und Entscheidungen schlechter durchdenken. Das Gehirn arbeitet optimal, wenn es zwischen Konzentration und Unkonzentriertheit hin- und herschaltet. Wir brauchen also auch Platz für Langeweile und abschweifende Gedanken. Das ist nicht nur wichtig, um das Gehirn nicht zu überlasten, sondern auch, weil etwa beim Mind-Wandering kreative Einfälle entstehen. Das erklärt die vielen wissenschaftlichen Durchbrüche, die beim Bummeln oder Tagträumen gelungen sind.

Als Team solltet ihr euch fragen: Was für eine Organisation wollen wir sein und welche Rolle spielt Fokus in unseren Arbeitsabläufen überhaupt? Ist es essenziell, dass Menschen lange fokussiert arbeiten, oder passen eure Ziele als Organisation auch zu Shallow Work? Dann könnt ihr überlegen, wie ihr mehr Raum für Fokus schafft, aber gleichzeitig auch sicherstellt, dass es Möglichkeiten für Leerlauf gibt. Konzentriert euch auf das, was am meisten zählt – nämlich was eure Mitarbeiter*innen brauchen, um gut arbeiten zu können.

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