Eine Collage, die ein menschliches Gesicht, einen Kalender, eine To-Do-Liste und ein Handy mit vielen verpassten Anrufen zeigt.
Fokus

So gelingt der Umgang mit ADHS im Team

Menschen mit ADHS gelten als unkonzentriert und chaotisch. Aus Sorge vor Stigmatisierung sprechen sie auf der Arbeit selten über ihre Symptome. Dabei würden von einer offenen Kommunikation alle profitieren – Betroffene wie Kolleg*innen.

Über die sogenannte Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, kursiert viel Halbwissen. Viele Menschen erkennen ADHS nicht als klinische Entwicklungsstörung an, sondern bezeichnen es als Modediagnose („Hat nicht jede*r mittlerweile ADHS?“), als eine Frage der Erziehung („Kinder mit ADHS brauchen nur etwas mehr Disziplin und Regeln!“), oder sie schreiben es Bewegungsmangel zu („Die müssen sich einfach nur mal richtig auspowern“).

Bis vor 15 Jahren herrschte noch die Meinung vor, ADHS wachse sich mit der Pubertät aus. Mittlerweile wissen wir, dass rund die Hälfte der 2,5 Millionen Menschen mit ADHS in Deutschland auch im Erwachsenenleben noch Symptome hat. Die Symptome verändern sich zwar mit zunehmendem Alter, doch die Störung selbst existiert nach wie vor und zeigt sich im Arbeitsalltag von Betroffenen beispielsweise an Unaufmerksamkeit und Zerstreutheit, Schwierigkeiten mit dem Einhalten von Deadlines oder impulsiven Entscheidungen.

Viele Erwachsene wissen lange nicht von ihrer ADHS, wenn in der Kindheit keine Diagnose gestellt wurde. Sie fragen sich dann oft viele Jahre, warum ihnen Struktur und Organisation so schwerfällt, oder haben einen diffusen Leidensdruck, weil sie oft anecken oder sich als anders wahrnehmen. Und die, die von ihrer ADHS wissen, sprechen aus Angst vor Stigmatisierung und fehlenden Rahmenbedingungen in Unternehmen oft nicht darüber. Das ist ein Problem, denn von einer offenen Kommunikation würden alle profitieren – die Betroffenen selbst und die ganze Organisation.

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Fünf Fakten, die du kennen solltest

In unserer Gesellschaft sind Mythen über ADHS weit verbreitet. Der erste Schritt zur Entstigmatisierung besteht darin, mehr über ADHS und neurodivergente Menschen zu lernen. Fünf wichtige Fakten zum Thema:

1. Die Ursachen liegen im Gehirn

Studien deuten darauf hin, dass ADHS auf eine Stoffwechselstörung im Gehirn zurückgeht. 12 Demnach steht bei Menschen mit ADHS im Raum zwischen zwei Nervenzellen nicht ausreichend Dopamin zur Verfügung. Neue Impulse können dadurch nur unzureichend gefiltert werden: Neue Gedanken treten ungehemmt auf, alte können nicht zu Ende gedacht werden. Menschen mit ADHS stehen unter einer ständigen Reizüberflutung, sie können schlecht zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden, sind schnell abgelenkt und unkonzentriert. Hier setzen auch Wirkstoffe wie Ritalin an, die bei stark ausgeprägter ADHS verschrieben werden: Sie blockieren die Dopaminwiederaufnahme im synaptischen Spalt, sodass sich der Dopaminspiegel „normalisiert“ und die Person weniger auf unwichtige Reize reagiert.

2. Auch Mädchen und Frauen haben ADHS

Statistisch gesehen werden dreimal mehr Jungen als Mädchen mit ADHS diagnostiziert. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass ADHS lange eher Jungen zugeschrieben wurde. 3 „FLINTA* erhalten oft keine ADHS-Diagnose, da ihre Symptome häufig nicht zu dem früher angenommenen Symptombild des hibbeligen Zappelphilipps passen”, sagt die Psychologin Sarah Krückels von SHITSHOW – Agentur für psychische Gesundheit. „Die Diagnosekriterien orientieren sich an einer veralteten Idee. Aufklärung und Schulung von Fachpersonal sind hier sehr wichtig, um ADHS frühzeitig zu erkennen.“ Bei den ADHS-Diagnosen von Erwachsenen sei das Geschlechterverhältnis ausgeglichener, sagt sie.

3. Hyperfokus ermöglicht Höchstleistungen

Menschen mit ADHS fällt es besonders schwer, sich auf Aufgaben zu konzentrieren, die sie als langweilig und eintönig empfinden. Bei Dingen, die sie interessieren, sieht es ganz anders aus: Im sogenannten Hyperfokus konzentrieren sich die Personen so intensiv auf ein Thema, dass sie Stress und körperliche Bedürfnisse wie Schlaf und Durst ausblenden. Im Hyperfokus leisten Menschen mit ADHS oft kreative Höchstleistungen. Gleichzeitig besteht aufgrund der regelmäßigen Überlastung ein erhöhtes Risiko für ein Burn-out.4 Die Autorin Roxanne Emery fasst das so zusammen: „Ich leide nicht unter einem Aufmerksamkeitsdefizit. Meine Aufmerksamkeit ist wild und nicht zu zähmen. Sie richtet sich nicht gern auf das Einfache, Leichte oder Alltägliche. Meine Aufmerksamkeit liebt Herausforderungen, Neues, und leider braucht sie Stress, um aufzublühen.“ 5

4. Der Leidensdruck ist hoch …

Menschen mit ADHS empfinden oft ausgeprägte Scham, Schuldgefühle und Selbstzweifel. 6 Sie schätzen oft falsch ein, wie lange sie für bestimmte Aufgaben brauchen, und sorgen so für Verzögerungen und Chaos bei anderen. Sie vergessen Termine, halten Absprachen nicht ein oder treffen impulsive Entscheidungen. Die Hyperaktivität aus der Kindheit spielt sich im Erwachsenenalter vor allem im Inneren ab, in Form von unruhigen Gedankenspiralen, die häufig zusammen mit Depressionen 7 und Schlafstörungen 8 auftreten. Der oftmals hohe Leidensdruck kann zu schwerwiegenden Konflikten im Berufs- und Privatleben führen.

5. … und wird auch von der Umwelt beeinflusst

In einer Studie mehrerer psychotherapeutischer Kliniken zu Diskriminierung rund um ADHS gaben über 70 Prozent der Befragten an, dass sie Diskriminierung durch ihren*ihre Arbeitgeber*in erwarten, wenn diese*r von ihrer Diagnose erfahren sollte. Ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen haben Erwachsene mit ADHS ein hohes internalisiertes Stigma, sie verinnerlichen also negative Überzeugungen, die in der Gesellschaft in Bezug auf ADHS existieren. Einer dieser verbreiteten Stereotypen ist zum Beispiel, dass ADHS bei Erwachsenen nicht existiere. Die Autor*innen der Studie schlussfolgern: Menschen mit ADHS brauchen einen besseren Schutz vor Stigmatisierung. 9

Begriffserklärung

Wie der Umgang mit ADHS im Team gelingt

Die Psychologin Sarah Krückels hat selbst ADHS, erhielt ihre Diagnose aber erst, als sie bereits im Berufsleben war. Teams würde sie als Erstes empfehlen, sich von überholten Glaubenssätzen zu lösen und sich stattdessen über ADHS zu informieren. Nicht jeder Mensch mit ADHS ist gleich, und die Symptome können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Ein offener Dialog fördert das Bewusstsein für ADHS und kann den so wichtigen Diagnoseprozess beschleunigen, insbesondere bei FLINTA*. Außerdem fördert er die psychologische Sicherheit im Team und ermutigt Menschen mit ADHS dazu, offen über ihre Situation zu reden, ohne Benachteiligung in der Organisation befürchten zu müssen.

Häufig wird angenommen, dass strengere Deadlines oder ein besseres Selbstorganisationssystem Menschen mit ADHS helfen, sich in traditionelle Arbeitsweisen einzufügen. Doch selbst optimale Strukturen können nicht garantieren, dass sich neurodivergente Menschen neurotypisch verhalten. Und das sollte auch nicht das Ziel sein: „Wir sollten Menschen mit ADHS nicht zwingen, sich an herkömmliche Methoden anzupassen, sondern ihre individuelle Arbeitsweise respektieren, solange diese niemandem schadet und für sie selbst funktioniert“, sagt Sarah Krückels. Statt stur zu fordern, dass jemand etwas „eben lernen muss“, obwohl klar ist, dass er*sie Schwierigkeiten damit hat, sollten wir anerkennen, dass es verschiedene Wege gibt, zu einem guten Ergebnis zu kommen. Offene Büroräume führen bei vielen neurodivergenten Menschen beispielsweise zu immenser Reizüberflutung. Daher sollten individuelle Absprachen, etwa über die Möglichkeit zum dauerhaften Homeoffice, erwogen werden.

Auch die richtige Gestaltung von Feedbackgesprächen ist entscheidend für Menschen mit ADHS, da sie in solchen Situationen intensiver reagieren können, bedingt durch ihre veränderte emotionale Regulation. Es kann sinnvoll sein, schon vorab mit Betroffenen über individuelle Bedürfnisse zu sprechen und zu fragen: „Wie ist es für dich, Feedback zu bekommen? Was ist dir dabei wichtig?“ Wertfreies Teilen konkreter Beobachtungen entsprechend der gewaltfreien Kommunikation kann Menschen mit ADHS dabei helfen, Feedback besser anzunehmen. Außerdem sollten Feedbackgeber*innen darauf achten, genügend Pausen im Gespräch zu machen, nicht zu viele unterschiedliche Themen zu behandeln und die Ergebnisse schriftlich festzuhalten. „Viele Methoden und Strukturen, die für neurodivergente Menschen hilfreich sein können, wären auch für neurotypische Menschen hilfreich“, sagt Sarah Krückels.

Praxis-Interview

Dominik Wagner ist Designer bei Neue Narrative. Vorher arbeitete er als Freelancer und hatte dabei oft Probleme mit Selbstorganisation und Projektmanagement. Dominik wurde erst mit 38 Jahren mit ADHS diagnostiziert und ist seitdem in Behandlung.

Was für Schwierigkeiten hast du durch dein ADHS im Arbeitsalltag?

Wenn eine Aufgabe nicht abwechslungsreich und kreativ genug ist, fällt es mir schwer, damit anzufangen. Stattdessen widme ich mich interessanteren Projekten oder prokrastiniere. Ich weiß, dass ich mich irgendwann um die Aufgabe kümmern muss, aber solange der Druck nicht groß genug ist, bin ich wie geblockt. Das nennt sich „Exekutive Dysfunktion“. Ein weiteres großes Problem ist die Zeitplanung. Ich schätze oft falsch ein, wie viel Zeit ich für eine Aufgabe brauche. Dadurch müssen meine Kolleg*innen teilweise lange auf mich warten.

Menschen mit ADHS haben einen ungefilterten Gedankenstrom. Wie äußert sich das bei dir?

Generell habe ich immer viele Projekte gleichzeitig und springe zwischen diesen hin und her. Auch während ich an einem Projekt arbeite, fällt mir irgendwie dauernd etwas zu einem anderen Projekt ein, oder ich tagträume über ganz neue Ideen und Möglichkeiten. Diese Nachdenkerei habe ich immer, auch nach Feierabend. Aber so etwas wie Feierabend habe ich eh kaum, weil ich gern nachts arbeite. Deswegen bin ich oft unausgeschlafen und habe manchmal Schwierigkeiten, meinen Tagesrhythmus mit dem Rest des Teams in Einklang zu bringen.

Wie gehst du mit diesen Schwierigkeiten um?

Die meisten Tipps, so gut sie gemeint sein mögen, funktionieren bei mir nicht. Ich habe schon einige Methoden ausprobiert, bei NN testen wir ja ständig neue Tools. Meistens kann ich mich ein paar Tage oder Wochen an ein System halten, aber es kostet unverhältnismäßig viel Kraft. Am Ende lande ich wieder im gewohnten Chaos und frage mich, warum ich es nicht schaffe, mich an einfachste Regeln zu halten. Mein derzeitiges System sieht ungefähr so aus: Ich schreibe mir zwei To-do-Listen auf Papier, eine mit kurzfristigen Tasks (diese Woche), eine mit mittelfristigen (diesen Monat). Langfristige Ideen notiere ich digital, damit ich nichts vergesse. Ich weiß, das ist ein sehr simples System, aber deswegen funktioniert es auch.

Und wie sieht dann ein typischer Arbeitstag aus?

Für den einzelnen Tag nehme ich mir selten konkrete To-dos vor, um nicht enttäuscht zu sein, wenn ich sie nicht erledigt habe. Meistens arbeite ich an einem Tag an den dringendsten Projekten, achte aber darauf, dass ich viele Pausen mache und zwischendrin auch leichte Aufgaben bearbeite, um nicht demotiviert zu werden. Einfach acht Stunden am Stück eine einzige Aufgabe abzuarbeiten, würde ich nicht hinkriegen. Irgendwie wird jede meiner Aufgaben fertig, meist mit zufriedenstellendem Ergebnis. Aber eben auch sehr oft auf den allerletzten Drücker.

Was wünschst du dir von deiner Arbeitsumgebung, um gut mit deinem ADHS arbeiten zu können?

Bei NN habe ich optimale Bedingungen. Ich habe die Möglichkeit, Projekte dann abzuarbeiten, wann es mir passt. Wenn ich mir einen halben Tag freinehmen möchte, muss ich niemanden um Erlaubnis fragen und kann die Arbeit wann anders nachholen. Ich kann mich in Stressphasen – z.B. während der Magazingestaltung – in meine „Hyperfokus-Höhle“ zurückziehen, kreative Ideen ausprobieren und mich in der Zeit komplett aus allen anderen Verpflichtungen ausklinken. Enge Kolleg*innen bringen zudem viel Geduld mit und wissen von meinem ADHS.

War das schon immer so?

Nein, grundsätzlich fällt es mir schwer, mich an Prozesse und Strukturen zu halten. Bei NN hat es zum Beispiel lange gedauert, bis ich nicht mehr in Meetings dazwischengequatscht habe (kommt aber auch immer noch vor). In Meetings würde ich oft am liebsten ausgiebig über bestimmte Themen plaudern, aber unsere Meetings haben immer eine klare Struktur und sind auf Effizienz getrimmt. Auch wenn ich das manchmal schade finde, hilft es mir dabei, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Gibt es weitere Strukturen und Prozesse, die du als hilfreich empfindest?

In den letzten beiden Wochen, bevor wir mit dem Magazin in den Druck gehen, wurde es in der Vergangenheit oft chaotisch. Ich war dann so in meinen Hyperfokus vertieft, dass ich nur selten auf Nachrichten reagiert habe. In einem unserer Retro-Meetings haben meine Kolleg*innen das Bedürfnis nach mehr Kommunikation und Transparenz geäußert. Gemeinsam haben wir eine Meeting-Routine aufgesetzt, in der ich einer Kollegin in der Phase kurz vor Druck alle zwei Tage berichte, wo ich gerade stehe. Wir sortieren und verteilen in fünfzehn Minuten alle wichtigen To-dos, danach kann ich mich wieder in meine Hyperfokus-Höhle zurückziehen.

Hast du durch dein ADHS besondere Stärken und Fähigkeiten?

Ja, definitiv mein Out-of-the-box-Denken. Ich habe das Bedürfnis, immer alles anders zu machen und neu zu denken. Das ist für Kreativität und Innovation sehr hilfreich. Damit verwandt: Ich bin immer bereit für neue Projekte und Aufgaben. Ich helfe auch gern anderen, weil es für mich eine Abwechslung bedeutet und Dopamin ausschüttet. Ich kann zudem sehr schnell Neues lernen oder mir selbst beibringen, vor allem wenn ich allein bin und in meinem eigenen Tempo lernen kann. Zuletzt: Dadurch, dass ich aufgrund der ADHS ohnehin ständig unter Stress stehe, bewahre ich insbesondere in Krisensituationen einen kühlen Kopf. Bei einem früheren Job habe ich mich deswegen sogar als Ersthelfer im Betrieb ausbilden lassen.

Die stillen Leistungen

Menschen mit ADHS wird auf Plattformen wie LinkedIn neuerdings eine besondere Sensibilität, Empathie und ein starker Wertekanon zugeschrieben. Ihre Fähigkeit, kreativ zu denken und in Stresssituationen zu funktionieren, gilt als besonders ausgeprägt. Sarah Krückels hält jedoch nichts davon, ADHS als „Superpower“ zu verklären: „Das ist zu simpel und meiner Meinung nach sogar ableistisch. Es gibt Menschen mit ADHS, die sehr funktional sind, und andere, die täglich leiden.“ Sich ausschließlich auf die positiven Aspekte, wie etwa den Hyperfokus, zu konzentrieren, ignoriert die zahlreichen Beschwerden, die viele Menschen mit ADHS erleben, sei es das Vergessen von wichtigen Absprachen oder die ständige innere Unruhe. Dennoch wird ADHS oft ausschließlich als Defizit betrachtet – mögliche Stärken und Fähigkeiten von Betroffenen werden nicht wahrgenommen.

Unsere Arbeitswelt ist primär auf neurotypische Menschen zugeschnitten. Menschen mit ADHS haben sich, meist über Jahre hinweg, Strategien angeeignet, um in dieser Welt zu bestehen – eine oft übersehene Leistung. „Ich bin mir sicher, dass unsere Sichtweise auf neurodivergente Menschen in einigen Jahren eine völlig andere sein wird“, prognostiziert Sarah. Wir alle können zu diesem Wandel beitragen.

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