Was kommt nach der Karriereleiter? Darum geht es in unserer aktuellen Ausgabe!

Viele Gefühle sind farblich illustriert und schweben im Raum herum.
Intro

Wir brauchen mehr Fühlungsqualitäten

  • Text: Laura Erler
  • Illustration: Magda Kreps

Gefühle gehören zur Arbeit, wir können sie ohnehin nicht zu Hause lassen. Sie sind weder positiv noch negativ, sondern neutral – und verraten eine Menge über unsere Grenzen.

Über weite Teile der Menschheitsgeschichte waren Gefühle im Arbeitsleben alltäglich. Schließlich waren in vormodernen Gesellschaften Arbeit und Privatleben oft eng miteinander verflochten – etwa in bäuerlichen Familienstrukturen oder Handwerksbetrieben. Erst im Zuge der Industrialisierung und vor allem mit dem Aufstieg rationaler Managementmethoden im 20. Jahrhundert wurden Gefühle am Arbeitsplatz zunehmend ausgeblendet: Effizienz, Kontrolle und Objektivität waren oberste Ziele; Gefühle galten als Störfaktor und sollten sich aufs Private beschränken.

Die Verunglimpfung von Gefühlen spiegelt sich in der Ideengeschichte. Schon René Descartes erklärte die ratio zur einzig verlässlichen Quelle von Erkenntnis (cogito, ergo sum – „Ich denke, also bin ich“). Und spätestens mit der Aufklärung hat sich im westlichen Denken das Bild des denkenden, rationalen Menschen etabliert, der sich nicht durch Gefühle lenken lassen soll, sowie eine strikte Trennung von Verstand und Gefühl inklusive einer Hierarchie: Rationale Analysen sind gut, Gefühle unzuverlässig.

Anfang des 20. Jahrhunderts zeichnete Max Weber in seiner Theorie der bürokratischen Rationalität in seinem Buch Wirtschaft und Gesellschaft (1922) das Bild der modernen Organisation als emotionsfreiem, regelbasiertem Apparat. Er erkannte aber auch schon, dass diese Rationalität zu einer Versachlichung und potenziellen Entmenschlichung führen kann.

Dieses Beharren auf Rationalität und Professionalität, auf Sachlichkeit und Zurückhaltung hält sich bis heute. Doch in Kontexten Neuer Arbeit zeichnet sich langsam ab: Gefühle gehören zur Arbeit. Schließlich sind sie sowieso immer da. Sie beeinflussen unsere Kommunikation, Entscheidungen und Teamdynamik. Und da sie sich nicht einfach wegrationalisieren lassen, geht es vielmehr darum, sie auch zuzulassen, sie zu erkennen und mit ihnen zu arbeiten.

Ein Büroarbeiter sitzt vor einem Laptop und versucht, mit einer Fliegenklatsche lästige Gefühle zu vertreiben.

Ich fühle, also bin ich

Die Hirnforschung weiß heute: Einen rein rational denkenden und handelnden Menschen gibt es nicht. Der portugiesische Neurowissenschaftler António R. Damásio etwa schreibt in seinem Buch Descartes’ Irrtum (1995), Gefühle seien die biologische Grundlage des Denkens und Entscheidens. Er zeigt das am Beispiel von Patient*innen mit Schäden im Bereich des ventromedialen präfrontalen Kortex. Dieser Bereich des Hirns ist wichtig für das Erleben von Gefühlen. Ist er geschädigt, können die Betroffenen zwar noch logisch denken – aber sie können im Alltag keine einzige Entscheidung mehr treffen.

Für unser Gehirn sind Gefühle also genauso wichtige Informationen wie Gedanken, denn sie basieren auf konkreten Erfahrungen und schneller Informationsverarbeitung. So auch Intuition und Bauchgefühl. In einer Studie konnten britische Forschende zeigen, dass Investmentbanker bessere Investment-Entscheidungen trafen, wenn sie in ihre Entscheidungen ihr Bauchgefühl mit einfließen ließen1.

Das heißt natürlich nicht, dass wir immer unreflektiert unserer Intuition folgen sollten. Immerhin kann diese auch z.B. Vorurteile produzieren. Aber wir sollten sie in unsere Überlegungen, etwa über einen neuen Job, einbeziehen. Denn wenn Emotionen und Gefühle ohnehin einen Großteil unserer Handlungen und Entscheidungen lenken, warum sollten wir sie ausgerechnet bei folgenschweren Entscheidungen bewusst aussperren?

Ein menschlicher Kopf mit einem Gehirn, das aus vielen Farben besteht, die Emotionen darstellen

So entstehen Emotionen

Gefühle entstehen im Gehirn, insbesondere im limbischen System, das Reize bewertet und emotionale Reaktionen auslöst. Dabei spielen Strukturen wie die Amygdala und deren Verbindung zum präfrontalen Kortex eine zentrale Rolle. Während in den 1970ern Emotionsforscher Paul Ekman noch postulierte, es gebe kulturübergreifend sieben universelle Basisemotionen – Freude, Traurigkeit, Angst, Wut, Ekel, Überraschung und Verachtung –, argumentiert die Psychologin Lisa Feldman Barrett in ihrem Buch How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain (2017), dass Emotionen kulturell und individuell konstruiert werden – also ein Produkt aus Erfahrung, Sprache und kontextueller Deutung sind.

Ein Beispiel, das diese Theorie stützt, stammt von dem Psychiater und Anthropologen Robert I. Levy. Er verbrachte Anfang der 1960er-Jahre über zwei Jahre in Tahiti. Bei seinen Feldforschungen stellte er fest, dass die Tahitianer*innen kein Konzept von Trauer hatten. Ihre Empfindungen in Anbetracht eines Verlustes beschrieben sie stattdessen als „Krankheit“ oder „seltsames Gefühl“.2

Emotionen <> Gefühle

Kollektives Fühlen

In jeder Gesellschaft gibt es Gefühlsgemeinschaften, also soziale Gruppen, die sich über gemeinsame emotionale Erfahrungen, Stimmungen oder Affekte konstituieren und verbinden. Manches fühlen wir zwar privat, etwa wenn wir in einer Beziehungskrise stecken, aber eine Großzahl an Gefühlen erleben wir in einem oder sogar durch ein Kollektiv.

Die Historikerin Ute Frevert zeigt am Beispiel Deutschlands im 20. Jahrhundert, wie zu unterschiedlichen Zeiten andere Gefühle sozial akzeptiert, reguliert und kommuniziert werden. Denn zu bestimmten Zeiten erleben bestimmte Gefühle in einer Gesellschaft Konjunkturen, sind also stärker verbreitet. Frevert spricht hierbei von „emotionalen Signaturen“.3

Während der Nazi-Herrschaft waren die Gefühle Hass, Stolz und Begeisterung besonders verbreitet. Nach 1945 bildeten sich in Ost und West unterschiedliche Signaturen. So waren in der BRD zum Beispiel Emotionen wie Demut und Schuld prominent vertreten, insbesondere in den 1960er-Jahren während der Auschwitz-Prozesse. In der DDR war die emotionale Signatur oft von einem staatlich geförderten Stolz auf den „sozialistischen Neuanfang“ und die Rolle als antifaschistischer Staat geprägt.4

Will man die emotionale Signatur unserer Zeit benennen, muss man wohl zu dem Schluss kommen, dass sie stark geprägt ist von Wut, Empörung und Hass. Wir sehen vielerorts eine destruktive Wut, die die demokratische Ordnung zerstören will und mit Hass gepaart ist. Der indische Essayist Pankaj Mishra etwa analysiert Das Zeitalter des Zorns in seinem gleichnamigen Buch und geht dabei weit zurück in die Kolonialgeschichte. 2010 wurde der Begriff „Wutbürger“ in den Duden aufgenommen und die Autorin Jennie Josephson bezeichnet die Zeit nach der letzten US-Wahl als Angerverse: eine Welt, in der Fakten an Bedeutung verlieren und Hasssprache zunimmt. Dieser Hass wird kollektiv erzeugt, etwa durch Hasskommentare im Internet, die geteilt und gelikt werden.

Als Demonstrant*innen 2016 Angela Merkel und Joachim Gauck als „Volksverräter“ und „Lügenpack“ beschimpften, rechtfertigte der damalige AfD-Landesvorsitzende Sachsen-Anhalts, André Poggenburg, das damit, die Leute seien eben wütend gewesen. 2024 rollten dann aus Protest gegen die Sparpolitik der Ampelregierung wütende Landwirte mit Traktoren in die Städte, kippten Gülle auf die Straße und blockierten Autobahnen.

Gleichzeitig erleben wir Wut aber auch als Instrument, um positiven Wandel anzustoßen. Es gibt immer mehr Feministinnen, die mit female rage endlich für mehr Gleichberechtigung und weniger Unterdrückung sorgen wollen.

Ein Computercursor klickt auf wütendes Gesicht ganz in rot

Aber auch Angst hat aktuell Hochkonjunktur, sei es Angst vor Kriegen, vor der Klimakatastrophe oder davor, sich das Leben nicht mehr leisten zu können. Populistische Parteien wie die AfD machen sich diese Stimmung zunutze, indem sie solche Ängste weiter schüren und vermeintlich einfache Lösungen anbieten, etwa in der Asyldebatte. In der Klimadebatte wiederum dient Angst als Antreiber für Verhaltensänderung: „I want you to panic!“5, lautete Greta Thunbergs Slogan vor dem World Economic Forum (WEF) 2019 in Davos. Auch hier gibt es also zwei Seiten der Medaille: Angst, die instrumentalisiert wird, um eine solidarische Gesellschaft zu spalten, und Angst, die wichtige Veränderungen vorantreibt.

Emotionen gehen viral

Ähnlich wie in Kulturen und Nationen bilden auch Organisationen und Teams Gefühlsgemeinschaften mit eigenen emotionalen Kulturen und emotionalen Normen: Welche Gefühle sind wann akzeptiert? Ist es okay, im Meeting zu weinen? Wie viel Spaß, Humor und Albernheit ist bei der Arbeit erlaubt? Darf man Arbeitsmails mit einem lustigen Katzen-GIF beantworten?

Dabei können sich die emotionalen Normen auch von Team zu Team unterscheiden. In einer Abteilung herrscht vielleicht mehr Sorge vor Kündigungen oder Strafen eines strengen Managers, während in einem anderen Team ein Pausenclown sitzt. Lachen ist bekanntlich ansteckend, aber es muss halt irgendjemand anfangen. Das kennen Menschen, die schon einmal einen Lachyoga-Workshop belegt haben. Dabei starten die Teilnehmer*innen meist mit absichtlich künstlichen Lachpantomimen und Atemtechniken, die durch Augenkontakt und spielerische Gruppendynamik letztlich zu echtem Lachen führen.

Und so wie sich dieses Lachen ausbreitet, bilden sich auch emotionale Kulturen heraus: durch kollektive Gefühle und emotionale Ansteckung. Die Emotional Contagion Theory6 beschreibt, wie Emotionen von einer Person auf andere übertragen werden: Jemand drückt durch Mimik, Gestik oder verbale Kommunikation eine Emotion aus, und jemand anderes im Raum internalisiert diese. Das funktioniert sogar, wenn die Emotionen nur digital zum Ausdruck kommen, etwa durch übermäßige Ausrufezeichen, eine lange unsortierte Nachricht oder Emojis.7

Doch leider erzeugen auch cholerische Chefs und Dauernörgler mit ihrem „Das wird eh nichts“-Geseier einen Dominoeffekt. Will Felps, Professor an der Rotterdam School of Management, führte ein Experiment durch, um herauszufinden, was passiert, wenn einzelne Teammitglieder schlechte Laune verbreiten. Er bezahlte einen Schauspieler dafür, sich in verschiedenen Gruppen von College-Studierenden, die in 45 Minuten gemeinsam eine Aufgabe bearbeiten sollten, wie ein jerk (z.B. Beleidigungen herumzuwerfen), ein pessimist (z.B. stetig die Kompetenz der Gruppe infrage zu stellen) oder ein slack (offen zu faulenzen) zu verhalten. Die anderen Studierenden begannen, sich ebenfalls so zu verhalten. Die Gruppenperformances sanken um 30 bis 40 Prozent gegenüber den Kontrollgruppen.8

Das geht so weit, dass die Gefühle von Kolleg*innen nicht nur unsere eigene Produktivität und unsere Stimmung beeinflussen, sondern sogar die von weiteren Personen in unserem Umfeld. Ein Forscherteam der Baylor University in Texas fand heraus, dass ein unfreundlicher Kollege emotional auf uns, damit auf unsere*n Partner*in und sogar deren Arbeitsplatz wirken kann.9 Genauso haben aber auch Mitgefühl oder Großzügigkeit eine Kaskadenwirkung.

Ähnlich wie in Kulturen und Nationen bilden auch Organisationen und Teams Gefühlsgemeinschaften mit eigenen emotionalen Kulturen und emotionalen Normen:

Emotionale Signale

Auch wenn sich seit der Industrialisierung einiges geändert hat, sind in vielen emotionalen Kulturen manche Gefühle noch immer negativ besetzt: Angst, Neid, Trauer und Wut zum Beispiel sind verpönt und werden im Arbeitskontext oft als unprofessionell gelabelt.

Aber drehen wir das Denken doch mal um: Es gibt keine negativen Gefühle, alle Gefühle sind zunächst gleichwertige Informationen, auch diejenigen, die wir als unangenehm empfinden. Sie informieren uns über unerfüllte Bedürfnisse, verletzte Werte, soziale Dynamiken, bestehende Ungerechtigkeiten und ungenutzte Potenziale. Nehmen wir ein paar Gefühle unter die Lupe, die im Arbeitskontext wichtige Signalwirkung haben können:

Angst

Angst warnt uns vor Risiken und Gefahren und hilft uns, Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Das ist auch am Arbeitsplatz wichtig. Wenn ich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit Bauchschmerzen habe, weil ich dort gemobbt, sexuell belästigt oder diskriminiert werde, ist es höchste Zeit, dass ich jemanden in mein Problem einbeziehe. Aber auch Angst vor Veränderungen, Kündigungen oder Insolvenz ist ein valides Gefühl. Organisationen sollten hierfür ein Angstmanagement haben.10

Neid

Neid zeigt uns auf, was wir uns wünschen – und das ist bei der Suche nach einem neuen Job oder einer neuen Aufgabe wichtig. Der niederländische Wirtschaftsprofessor Niels van de Ven hat in einer Studie gezeigt, dass das rein negative Image des Neids ungerechtfertigt ist. Er unterscheidet zwischen konstruktivem, gutartigen Neid (benign envy) und destruktivem, bösartigem Neid (malicious envy)11. Gutartiger Neid kann motivierend wirken und dazu beitragen, dass wir die eigene Position oder den Arbeitsplatz verbessern wollen. Unschön wird es nur, wenn Neid destruktiv wird und dazu führt, dass wir lästern oder sogar versuchen, jemandem zu schaden.

Trauer

Trauer zeigt, wer und was uns wichtig ist. Wenn unter Kolleg*innen oder im Umfeld jemand stirbt, stärkt gemeinsames Trauern Verbindungen. Anders, aber ebenfalls alltäglich, ist Trauer nach einer Kündigungswelle oder nach großen Change-Prozessen, wenn wir uns von Liebgewonnenem trennen müssen. Auch die Phase zwischen altem und neuem Job ist oft eine Zeit gemischter Gefühle. Abschiedsschmerz, Vorfreude und Unsicherheit liegen dann nah beieinander. All diese Gefühle haben ihre Berechtigung und helfen, eine Bilanz zu ziehen: Was möchte ich bewahren, was muss ich gehen lassen und was betrauere ich?

Wut

Wut sollte kein Mittel sein, um andere einzuschüchtern und den eigenen Willen durchzusetzen. Aber sie kann auf drängende Probleme hinweisen und Veränderungen vorantreiben, weil wir durch sie Bedürfnisse und Missstände besser erkennen. Und wenn sie sich gegen das richtet, was uns oder anderen schadet – Ungerechtigkeit, Ausgrenzung, Respektlosigkeit –, kann Wut eine produktive Kraft entfalten. Denn anders als Angst, die oftmals paralysiert, spornt Wut zu Taten an.

Dennoch wird Wut häufig unterdrückt. Entweder weil es als gute Etikette gilt, im Job die Contenance zu bewahren, oder weil ein Machtgefälle vorliegt. Manche Menschen dürfen wütender sein, ohne dafür bestraft oder verurteilt zu werden. So gelten Frauen und BIPoC oft als zu emotional und werden deshalb noch weniger ernst genommen, wenn sie Wut offen ausdrücken. Um diese Außenwahrnehmung auszugleichen, sind sie oft bemüht, empathisch und ungefährlich zu wirken. Dafür müssen sie emotionale Arbeit leisten, also so tun, als ob sie bestimmte Emotionen nicht fühlen, sondern geduldig zuhören, wenn sie eigentlich schreien wollen.

Aber wenn wir versuchen, unsere Traurigkeit, Enttäuschung oder Wut auf der Arbeit zu unterdrücken, ist es wahrscheinlicher, dass wir eben diese Gefühle stärker empfinden. In einer Umfrage sollten Leute bewerten, wie sehr sie Aussagen wie „Ich glaube, dass ich nicht so fühlen sollte, wie ich mich fühle“ zustimmen. Diejenigen, die ihre Gefühle als schlechter empfanden, fühlten sich insgesamt weniger wohl als die mit mehr Selbstakzeptanz.12 Die Nicht-Akzeptanz von als negativ gelabelten Gefühlen sorgt dafür, dass wir uns noch schlechter fühlen.

Es gibt keine negativen Gefühle, alle Gefühle sind zunächst gleichwertige Informationen, auch diejenigen, die wir als unangenehm empfinden.

Gute Gefühle

Natürlich sollten Organisationen nicht nur unangenehme Gefühle ernstnehmen, sondern auch Freude, Stolz und Motivation genügend Raum geben. Deshalb heißt z.B. das San-Francisco-Büro der Design- und Innovationsberatung IDEO Neuzugänge mit einem „Enterview“ willkommen. Dabei sagen alle Kolleg*innen der neuen Person, warum sie sich freuen, dass sie da ist, und welche ihrer Skills sie besonders begeistern. Solche kleinen Rituale der Wertschätzung und Anerkennung erzeugen angenehme Gefühle wie Dankbarkeit.

Schwieriger ist es mit dem sehr allgemeinen und viel besprochenen Glücksgefühl. Wenn wir uns regelmäßig gut fühlen bei der Arbeit, ergibt das in Summe eine gewisse Zufriedenheit. Allerdings kann die Vorstellung, Arbeit könne eine Quelle von unbegrenztem Glück und Selbstverwirklichung sein, emotional abhängig machen. Wenn das eigene Wohlbefinden zu stark an die Arbeit gekoppelt wird, können wir schwer zwischen beruflicher Identität und persönlichem Selbstwert unterscheiden. Das kann langfristig zu emotionaler Erschöpfung führen.13

Eine glücklich lächelnde Sonne steht zwischen Büromaterialien
Zwei glücklich aussehende neue Kollegen winken und halten ein Transparenz mit der Aufschrift Willkommen

Mini-Tool: Das Enterview

Das Enterview ist ein Willkommensritual, das neue Teammitglieder nicht nur mit Informationen, sondern vor allem mit ehrlicher Wertschätzung begrüßt. Es zeigt: Du bist hier willkommen, und wir freuen uns wirklich auf dich. So entsteht von Anfang an eine Kultur des Respekts und echter emotionaler Verbindung. Neue Kolleg*innen fühlen sich gesehen und geschätzt, gleichzeitig üben die bestehenden Teammitglieder Gefühle wie Freude, Dankbarkeit und Zugehörigkeit auszudrücken.

So geht’s:

  1. Alle Kolleg*innen, die mit der neuen Person im Einstellungsprozess zu tun hatten, überlegen sich Antworten zu den folgenden Fragen:
  • Welche Fähigkeiten oder Erfahrungen der neuen Person finde ich besonders beeindruckend?
  • Welche ihrer bisherigen Projekte oder Stationen finde ich inspirierend, und warum?
  • Worauf freue ich mich am meisten in der Arbeit mit der Person?
    Welche Stärken bringt sie mit, die unser Team ergänzen oder bereichern könnten?
  1. Im Enterview tragen sie der Reihe nach ihre Wertschätzung für die neue Person vor.

  2. Wer möchte, kann zusätzlich noch die folgenden optionalen Fragen beantworten, um nicht nur Wertschätzung, sondern auch anderen Gefühlen einen Raum zu geben.

  • Welche Gefühle hat die erste Begegnung mit der neuen Person bei mir ausgelöst?
  • Wie fühlt es sich jetzt an, die Person willkommen zu heißen?

Emotionale Kompetenz

Eine emotionale Kultur ist nicht gottgegeben oder unumstößlich. Wie alles an menschengemachten Organisationen lässt sie sich formen und verändern: Wenn ich kulturell etwas Bestimmtes anstrebe, muss ich auch darauf achten, dass ich die Gefühlslage der Organisation oder meines Teams dahin bewege. Wenn ich mir beispielsweise kreative Ideen und Risikobereitschaft wünsche, dann ist es sicher nicht hilfreich, wenn die vorherrschende Emotion Angst ist. Oder Frust.

Um Pessimisten davon abzuhalten, die Stimmung dauerhaft herunterzuziehen, schlagen die Autor*innen Liz Fosslien und Mollie West Duffy in No hard feelings etwa vor, ein 2:1-Verhältnis von positiven zu negativen Kommentaren anzustreben. Dies lässt sich z.B. erreichen, indem zentrale Personen in der Organisation einen negativen Kommentar regelmäßig mit mindestens einem Lob, einer wertschätzenden Bemerkung oder einem Witz kontern.14

Dabei spielen Führungskräfte eine wichtige Rolle. Die sieht aber anders aus, als viele glauben. Leader werden oft als eine Art shit umbrella aufgefasst: Sie sollen schlechte Gefühle abfangen und ihr Team vor diesen schützen. Sie sollen nach einer Runde Kündigungen oder wenn es der Organisation schlecht geht, selektiv verletzlich sein, aber nicht zu viele Emotionen teilen und möglichst professionell – also unemotional – bleiben, da sonst angeblich ihre Autorität untergraben wird.15 Es stimmt: Die eigenen Gefühle managen zu können, ist ein wichtiger Leadership-Skill. Ein unbedachter pampiger Kommentar des hitzigen Vorgesetzten kann Mitarbeiter*innen den Tag ruinieren und auf Dauer dazu bringen, zu kündigen. Wenn allerdings nur eine Person im Team ihre Emotionen reguliert und alles abfängt, führt das zu emotionaler Überlastung bei dieser Person und emotionaler Inkompetenz bei den anderen.

Emotionale Nachhaltigkeit in Unternehmen bedeutet, emotionale Ressourcen nicht auszubeuten, sondern sie nachhaltig zu pflegen – zum Schutz vor Burn-out und zur Stärkung des emotionalen Ökosystems der gesamten Organisation. Deshalb ist es wichtig, dass alle im Team emotionale Kompetenzen erlangen – denn die wandelt sich derzeit von einer vermeintlichen Nebensache zu einer Kernkompetenz. Der Begriff leitet sich von einem Konzept der US-Psychologen John D. Mayer und Peter Salovey ab. Sie etablierten Anfang der 1990er-Jahre den Begriff emotionale Intelligenz und beschrieben damit die Fähigkeit, eigene und fremde Gefühle wahrzunehmen, zu verstehen und zu beeinflussen. Dem US-Psychologen Daniel Goleman zufolge gibt es fünf Säulen emotionaler Intelligenz: Selbstwahrnehmung, Selbstregulierung, Motivation, Empathie, soziale Kompetenz.16

Eine große Führungskraft schirmt schlechte Gefühlswolken von ihren Mitarbeitenden ab.
Eine Infografik, die wichtige Schritte emotional kompetenter Teams abbildet: Gefühle haben Raum, Gefühle sichtbar machen, Gefühle nicht bewerten, Gefühle führen zu Erkenntnis, Gefühle führen zu Veränderung
Infografik: emotionale Kompetenzen im Team

Viele dieser Fähigkeiten lassen sich erlernen, weshalb emotionale Kompetenz der treffendere Begriff ist. Sie zu erlangen, erfordert eine bewusste Auseinandersetzung und Übung. Resilienztrainings, Achtsamkeitsübungen oder Methoden wie die Gewaltfreie Kommunikation schulen Empathie und das Vermögen, die Vielfalt der Emotionen an sich wahrzunehmen, richtig zu benennen und konstruktiv für andere zu übersetzen. Wenn wir das meistern, schafft das wertvolle Transparenz unseren Team-Kolleg*innen gegenüber, die sonst im Dunklen tappen und über unsere innere Verfasstheit spekulieren müssen. Dafür ist nicht unbedingt ein langes Training nötig, sondern kann zum Beispiel einfach bedeuten, dass alle sich beim Check-in zum Team-Meeting auf dem Gefühlsrad verorten.17

Die ideale Gefühlsgemeinschaft

Wenige Organisationen reden über emotionale Normen und die Gefühlskultur. Aber nur weil sie Gefühle bei der Arbeit ignorieren, heißt das nicht, dass die Gefühle aufhören, uns zu beeinflussen. Als Organisation können wir Gefühlen Raum geben und eine Kultur schaffen, in der die jeweiligen Gefühle als Signale für eine bessere Zusammenarbeit genutzt werden. Wir können Kolleginnen, die nur Trauer oder Resignation äußern, ermuntern, auch mal wütend zu sein, und Leute, die sehr viel destruktive Wut zeigen, fragen, was los ist. Vielleicht bringt das Missstände ans Licht, die uns vorher verborgen waren.

Wenn jemand aber ausschließlich schlechte Laune verbreitet, herumwütet oder gar mobbt, liegt es in der Verantwortung der Führungskräfte, klarzustellen, dass dieses Verhalten nicht den emotionalen Normen der Organisation entspricht, ihre Negativität einzudämmen oder – wenn das nicht funktioniert – die Zusammenarbeit zu beenden.

Letztlich ist eine gesunde emotionale Kultur nicht nur wichtig, damit sich langfristig alle wohlfühlen, sondern verhindert auch, dass Mitarbeitende unnötig von der Arbeit abgelenkt sind oder sich nach einem anderen Job umsehen. Die Frage, welche Gefühlsgemeinschaft wir sein möchten – gesellschaftlich, bei der Arbeit, im Team – haben wir alle in der Hand.

Alle Gefühle sitzen in bunten Farben an einem Schreibtisch zusammen

Takeaways

  • Gefühle sind unverzichtbar für Denken und Handeln: Emotionen sind keine Störfaktoren, sondern essenzielle Bestandteile unserer Entscheidungen, Kommunikation und sozialen Dynamik – auch am Arbeitsplatz.
  • Gefühle und Emotionen entstehen nicht nur individuell, sondern sind kollektive, kulturell geformte Phänomene, die Gesellschaften, Organisationen und Teams prägen.
  • Ein bewusster Umgang mit Gefühlen verbessert die Arbeitskultur: Emotionale Kompetenz – das Wahrnehmen, Verstehen und Nutzen von Gefühlen – ist entscheidend für gesunde, leistungsfähige Teams und Organisationen.

FUßNOTEN

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