Cradle to Cradle ist mehr als ein Zertifikat: Statt Produkte bloß weniger schlecht zu machen, werden sie von Anfang an richtig gut hergestellt. Genauso wie unser Heft.
Sir David Attenborough, der bekannte Naturforscher und Moderator, hat die Menschheit einmal als „Plage auf dieser Erde“ bezeichnet. Und auch in vielen Nachhaltigkeitsdiskussionen herrscht ein negatives Menschenbild vor. Wenig motivierend, liegt doch die riesige Aufgabe vor uns, die gesamte menschliche Lebens- und Wirtschaftsweise umzubauen. Das Cradle-to-Cradle-Konzept (C2C) bietet eine Perspektive, die man dagegen als “hands on” beschreiben könnte. Die entscheidende Frage lautet: Wie können wir die Dinge so herstellen, dass sie keinen Schaden verursachen und sogar ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Mehrwert schaffen?
C2C als Denkrichtung und Designprinzipien
C2C beschreibt eine echte Kreislaufwirtschaft, in der alle Abfallprodukte in geschlossenen Kreisläufen vollständig wiederverwendet werden.1Denn um den Klimawandel aufzuhalten, die planetaren Stickstoff- und Phosphorkreisläufe in Balance zu halten und den Ausstoß von Schadstoffen zu senken2, reicht es nicht aus, weniger zu produzieren und weniger Abfall zu erzeugen – was in Anbetracht einer wachsenden Weltbevölkerung ohnehin aussichtslos scheint. Wir müssen unsere Ressourcen viel effizienter nutzen!
Der Unterschied zwischen C2C und Kreislaufwirtschaft
Zum New Work Glossar
Hol dir eine kostenlose Ausgabe von Neue Narrative
Magazin kostenlos lesenDer Lösungsansatz von C2C hat drei Kernpunkte:
1. Definieren, was gut ist, anstatt wegzulassen, was schlecht ist
Bisher geht es bei der Neu- und Umgestaltung von Produkten oft darum, giftige Stoffe zu ersetzen. Shampoos sind dann beispielsweise „frei von Silikonen" und Plastikflaschen „frei von BPA“. Tatsächlich werden die bedenklichen Stoffe jedoch oft nur durch andere bedenkliche ersetzt, statt explizit darauf zu achten, dass das gesamte Produkt aus unbedenklichen Stoffen hergestellt wird. In Bremsbelägen für Autoräder beispielsweise befindet sich heute statt Asbest der Stoff Antimonsulfid, bei dem ebenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, dass er krebserregend ist. Beim Bremsen wird dieser abgerieben und gelangt als Bremsstaub in die Umwelt.
Cradle to Cradle hingegen bietet einen qualitativen Ansatz, der solche Probleme gar nicht erst produziert. Statt zu versuchen, den Bremsstaub in aufwendigen Verfahren wieder aus Böden und Gewässern zu holen oder die ökologischen Folgen davon abzumildern, würden die Bremsbeläge nach Cradle-to-Cradle-Standards von Anfang an aus Stoffen hergestellt, die ohne Bedenken in die Natur gelangen können.
2. Materialgesundheit in den Mittelpunkt stellen
Eine Produktion mit ausschließlich gesunden Materialien ist allerdings gar nicht so leicht umzusetzen: Denn erstens sind Wertschöpfungsketten heute so globalisiert, dass kaum jemand genau weiß, welche Bestandteile welches Produkt hat. Und zweitens ist es oft schwer, verschmutzte Materialien wieder zu reinigen. An vielen Stellen werden also Materialien mit Schadstoffen in die bestehenden Recycling-Kreisläufe eingebracht. Diese Materialien können nur selten als Grundlage für C2C-Produkte genutzt werden. Obwohl Recyclingmaterialien eigentlich die beste Grundlage für ökologische Produkte wären, weil dafür keine neuen Ressourcen benötigt werden, können sie also häufig nicht für C2C-Produkte verwendet werden, weil es nicht möglich ist, giftige von unbedenklichen Stoffen im Recyclingprozess zu trennen.

3. Kreisläufe von Anfang an mitdenken
Bei der Anpassung an Cradle-to-Cradle-Richtlinien geht es nicht um punktuelle Maßnahmen, sondern um das Produkt und Geschäftsmodell an sich. Anhand der Fragen, welchen Zweck ein Produkt hat und wie es entsorgt wird, wird bestimmt, ob es zur Biosphäre oder zur Technosphäre gehört.
A) Die Biosphäre
In den biologischen Kreislauf gehören Verbrauchsgüter wie Kosmetika, T-Shirts, deren Fasern sich abreiben, oder eben Bremsbeläge von Autorädern. Alle Bestandteile solcher Produkte müssen gesund sein, dürfen also keine umweltschädigenden Stoffe freisetzen, wenn sie in biologischen Kreisläufen zirkulieren. Die Produzent*innen solcher Güter müssen sich folgende Fragen stellen: Sind die Teile meines Produkts, die in der Umwelt landen, biologisch abbaubar? Sind die Materialien für das Nutzungsszenario geeignet, für das sie vorgesehen sind? Ein T-Shirt beispielsweise muss hautverträglich sein und darf auch in der Waschmaschine keine schädlichen Stoffe wie Mikroplastik abgeben.
B) Die Technosphäre
Produkte aus dem technischen Kreislauf sind Gebrauchsgegenstände wie Autos, technische Geräte oder Möbel. Am Ende ihres Produktlebens müssen sie wieder in Einzelkomponenten zerlegbar und dann vollständig recyclebar sein. Produzent*innen dieser Güter müssen sich fragen: Wie bekomme ich die Materialien am Ende des Produktlebens zurück? Wie muss der Gegenstand konstruiert sein, damit er in Einzelteile zerlegbar ist? Und muss ich vielleicht sogar mein Geschäftsmodell ändern, das Produkt zum Beispiel vermieten, statt es zu verkaufen?
Was bedeutet C2C für Unternehmen?
Wenn sie nach C2C-Standards produzieren wollen, müssen Unternehmen vor allem ihre Wertschöpfungskette und Kooperationen in den Blick nehmen. Zulieferer der gesamten Wertschöpfungskette müssen beteiligt werden: Sind ihre Produkte und Materialien für das jeweilige Nutzungsszenario geeignet oder müssen sie weiterentwickelt werden? Die Recherche und das Erstellen von Prototypen kann, gerade am Anfang, hohe Investitionen verursachen, weshalb gegebenenfalls branchenübergreifende Kooperationen sinnvoll sind. So entwickeln beispielsweise mehrere Fahrradhersteller, die normalerweise auf dem Markt konkurrieren, gemeinsam ein C2C-Fahrrad.
Auch das Verhältnis zwischen Unternehmen und Endkund*innen kann sich durch die Orientierung an C2C verändern. Viele Produkte müssen schließlich so konzipiert werden, dass die Materialien am Ende der Nutzungsdauer wieder zum Unternehmen zurückkommen. Ein Beispiel sind die C2C-zertifizierten Papierhandtücher BlackSatino von WEPA: Nach Gebrauch werden diese aus Bahnhöfen, Schulen und Flughäfen wieder abgeholt und zu neuen C2C-Handtüchern recycelt.
Input-Geberin
Nora Sophie Griefahn ist Cradle- to- Cradle- Expertin. Als Mitgründerin und geschäftsführende Vorständin bei der Cradle to Cradle NGO setzt sie sich für eine Gesellschaft ein, die nicht weniger schlecht, sondern richtig gut handelt.

So entsteht ein Cradle-to-Cradle-Magazin
Unser Magazin ist ein Cradle-to-Cradle-Produkt. Es besteht also aus unbedenklichen Materialien. Der Kreislauf schließt sich aber nur, wenn unsere Leser*innen sich daran beteiligen.
Das Papier
Ein Magazin besteht zu 98 Prozent aus Papier. Wir nutzen ein Cradle-to-Cradle-Papier namens PurePrint Nature von einem österreichischen Papierfabrikanten.
Es ist mit dem FSC-Siegel zertifiziert3– das Rohmaterial stammt also aus nachhaltiger und umweltgerechter Waldbewirtschaftung. Außerdem ist unser Papier mit dem C2C-Silber-Zertifikat ausgezeichnet. Es wird chlorfrei gebleicht und enthält keine Chlorrückstände, aber der Herstellungsprozess kommt nicht komplett ohne Chlor aus. Deswegen ist das Papier nur Silber- und nicht Gold-zertifiziert.
Wenn ein Druckprodukt nur eine einzige Komponente enthält, die den höheren Standard nicht erfüllt, wird das ganze Produkt mit dem niedrigeren Standard ausgezeichnet – in diesem Fall also Silber.
Die Farben, Leime und Lacke
Das Heft besteht – neben dem Papier – zu 1,8 Prozent aus Pflanzenölfarben und zu weiteren 0,2 Prozent aus Klebstoffen und Lacken.
Alle Lieferant*innen und Sublieferant*innen in der Wertschöpfungskette müssen jeden von ihnen verwendeten Rohstoff prüfen lassen. Für unser Heft mussten mehr als 100 Chemikalien von über 20 beteiligten Organisationen in der Wertschöpfungskette ökotoxikologisch geprüft und für unbedenklich befunden werden. Es sind keine krebserregenden, erbgutverändernden oder fruchtschädigenden Stoffe darin enthalten. Unsere Leime und Lacke sind alle Gold-zertifiziert, also 100 Prozent unbedenklich. Unsere Farben haben sogar eine Platinum-Auszeichnung: Selbst die Maschinen und deren Reinigung entsprechen C2C-Standards.
Der Druckprozess
Neue Narrative wird von der Druckerei gugler* in Österreich gedruckt. Die Druckerei ist auch die Auftraggeberin für den gesamten Zertifizierungsprozess und finanziert für alle Lieferant*innen die Weiterentwicklung ihrer Materialien.
gugler* war 2020 die erste Druckerei in Europa, die Cradle-to-Cradle-Gold-Produkte angeboten hat. Um die Zertifizierung zu erhalten, werden fünf Kategorien bewertet:
- Materialgesundheit: Die Druckprodukte enthalten nur gesunde Substanzen.
- Kreislauffähigkeit: Alle Reststoffe aus den Druckprodukten können ohne Bedenken in den biologischen Kreislauf zurückgeführt werden.
- Erneuerbare Energien: In der Produktion kommt ausschließlich Ökostrom zum Einsatz und alle CO2-Emissionen im Herstellungs- und Lieferprozess werden zu 110 Prozent kompensiert.
- Wasserverantwortung: Es gelangen keine Chemikalien ins Abwasser und mit Wasser wird sparsam umgegangen.
- Soziale Fairness: gugler* wirtschaftet nach Gemeinwohl-Ökonomie-Kriterien. Achtsamkeit, Verbundenheit innerhalb des Unternehmens, zwischen gugler* und den Kund*innen und Partner*innen und Wachstum der Mitarbeiter*innen und Teams sind einige der Unternehmenswerte. Die Firmengebäude bestehen aus ökologischen Baumaterialien, im betriebseigenen Restaurant wird vegetarisch gekocht. gugler* fördert außerdem die Fort- und Weiterbildungen seiner Mitarbeiter*innen und bietet Coachings an.4
Die Zertifizierung und Entwicklung
Bei der ökotoxikologischen Beurteilung der Materialien wird gugler* vom dänischen Forschungspartner Vugge til Vugge unterstützt. Vugge til Vugge untersucht jedes Material und hilft den Lieferant*innen ggf. bei der Weiterentwicklung.
Materialien werden in fünf Stufen kategorisiert: A, B, C, X und Grau. Während A vollkommen unbedenklich ist, sind B und C leicht bedenklich. Materialien in Stufe X sind nicht gesund und in der grauen Stufe landen Chemikalien, deren Bedenklichkeitsstatus ungeklärt ist. Aus dieser ersten Einordnung wird abgeleitet, an welchen Stellen die Materialzusammensetzung verbessert werden muss. Der finanzielle Aufwand für den Verbesserungsprozess liegt komplett bei gugler*.
Das Zertifikat wird anschließend von einem externen Auditor vergeben.
Das Lager und die Logistik
Um unnötige Lieferwege zu vermeiden, werden die Hefte für unsere Abonnentinnen in Österreich und der Schweiz direkt von gugler versendet. Die meisten Exemplare jedoch werden an unseren Vertriebspartner in Südhessen geliefert. Dort werden sie von Hand in Papier verpackt und mit DHL GoGreen versendet.
Wir drucken übrigens immer nur wenige Tausend Exemplare auf Vorrat. Das spart Ressourcen und Energie.
Die Leser*innen und der Kreislauf
Unsere Leser*innen erhalten ein absolut unbedenkliches Produkt, das sie hoffentlich lange lesen, an möglichst viele Menschen weitergeben und theoretisch sogar auf den Kompost werfen könnten, wo es vollständig abbaubar wäre.5
Optimal wäre das aber nicht, denn unser Magazin ist perfekt für den technischen Papier-Recycling-Kreislauf: Im technischen Altpapierkreislauf kann das Papier wiederaufbereitet zu einem wertvollen Rohstoff werden.
Am besten wäre es natürlich, wenn das Magazin in einen Cradle-to-Cradle-Kreislauf zurückgeführt würde, dann ginge gar kein Material verloren. Man könnte ein Cradle-to-Cradle-Recyclingpapier daraus herstellen. Dafür gibt es leider derzeit keine Infrastruktur. Aber es gilt: Je höher der Anteil an Cradle-to-Cradle-Papier im Altpapierkreislauf ist, desto besser.
FUßNOTEN
- 1
Das Prinzip wurde Ende der 1990er Jahre vom deutschen Chemiker Michael Braungart und dem US-amerikanischen Architekten William McDonough entwickelt. ↩
- 2
Cradle to Cradle trägt zur Einhaltung der neun planetaren Belastbarkeitsgrenzen bei. ↩
- 3
Um das FSC-Siegel zu bekommen, müssen zehn Bedingungen erfüllt sein – neben ökologischen werden auch soziale und wirtschaftliche Faktoren berücksichtigt. Was ökologisch und sozial nachhaltig ist, wird jedoch in jedem Land anders ausgelegt. FSC ist zwar einerseits das umfassendste internationale Label, andererseits wird kritisiert, dass eine Entnahme von Holz aus Urwäldern nicht grundsätzlich verboten ist und dass teilweise Monokulturen als nachhaltig zertifiziert sind. ↩
- 4
Die Informationen stammen aus der Gemeinwohl-Bilanz 2019–2021 ↩
- 5
Auf der letzten Seite im Magazin steht, was noch alles mit diesem Heft geschehen kann, bevor es im Altpapier landet. Auf den Kompost soll es aber nicht unbedingt – einen offiziellen Kompostierbarkeitstest haben wir bisher nämlich nicht gemacht. ↩