Was kommt nach der Karriereleiter? Unsere neue Ausgabe ist da!

Guide

Mit dem Karrieregitter inklusiv und zukunftsfest planen

  • Text: Paul Fenski
  • Bild: Amelie Baumer
  • Lektorat: Juli Katz

Wir denken Karrieren noch immer als Leitern, was weder den Menschen noch den Organisationen gerecht wird. Das Karrieregitter ermöglicht individuelle Karrierepfade und nimmt dabei die Bedürfnisse beider Seiten in den Blick.

Das noch immer verbreitete Prinzip der Karriereleiter folgt einem einfachen Gesetz: Steige weiter auf – oder aus (up or out). Es stammt aus Organisationen mit einem streng-hierarchischen Aufbau, denn diese Hierarchie gibt bereits den einzig möglichen Karrierepfad vor.

Die Leiter ist recht voraussetzungsreich: Sie braucht stabile Bedingungen innerhalb und außerhalb der Organisation. (Wenn morgen nicht mehr sicher ist, ob es die Position meines Chefs noch gibt, warum sollte ich sie anstreben? Wenn ich nicht weiß, ob es die Organisation noch in fünf Jahren gibt, warum sollte ich mich anstrengen?) Außerdem geht die Leiter davon aus, dass Menschen aufsteigen wollen, weil sie im Aufstieg persönliche Erfüllung finden und deshalb auch bereit sind, einen beträchtlichen Teil ihrer Lebenszeit einzusetzen. Die Frage ist, ob diese Voraussetzungen noch gegeben sind. Denn die Arbeitswelt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert.

Digitalisierung, Globalisierung und multiple Krisen haben zu einem Zustand geführt, den Organisationsentwickler*innen mit dem Akronym BANI1 umschreiben: B wie brittle (porös) bezieht sich auf Strukturen, die an Stabilität verlieren, weil sie nicht anpassungsfähig sind. A wie anxious (ängstlich) kennzeichnet die Entscheidungsfindung dieser Organisationen. N wie non-linear (nicht-linear) beschreibt den häufig nicht überblickbaren Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Und I wie incomprehensible (unverständlich) ist eine Reaktion auf die immer weiter zunehmende Komplexität, zum Beispiel in Bezug auf gesetzliche Regeln und Bestimmungen.

Das führt zum einen dazu, dass Organisationen viel agiler auf Veränderungen reagieren müssen als früher – zum anderen binden sich immer weniger Menschen langfristig an Organisationen. Insbesondere wenn sie das Gefühl haben, die Organisation sei nicht gut für die Zukunft aufgestellt und höre nicht auf die Belange der Mitarbeiter*innen.

Hinzu kommt, dass auch die Zusammensetzung der arbeitenden Bevölkerung heute eine ganz andere ist: Inzwischen arbeiten fast so viele Frauen wie Männer, aber absolut nicht weniger Männer. So viel Lohnarbeit wie heute wurde noch nie geleistet – das bedeutet, dass auch die Sorgearbeit gerechter verteilt werden muss. Es braucht also neue Karrieremodelle, die eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben bieten.

Bislang ist dies allerdings nicht der Fall. Die Geburt eines Kindes bedeutet vor allem für Frauen teils erhebliche berufliche Nachteile. Das ist wiederum ein Grund für die geringe Geburtenrate, die Unternehmen bereits in Form des Fachkräftemangels zu spüren bekommen, was es ihnen immer schwerer macht, offene Stellen zu besetzen.

Die Karriereleiter spricht all diese Veränderungen und neuen Anforderungen nicht an. Im Gegenteil, sie sorgt eher noch für mehr Probleme. Sie kennt nämlich nur eine Richtung: nach oben. Dabei möchten sich viele Menschen in andere Richtungen entwickeln.

Bei einer Befragung von 2.000 US-amerikanischen Angestellten2 kam heraus, dass 89 Prozent einen horizontalen Karriereschritt gehen würden, also etwa den Fachbereich wechseln würden – ohne finanzielle Anreize.3 Eine Erhebung von Stepstone deutet daraufhin, dass es in Deutschland ähnlich ist: 55 Prozent der Arbeitnehmer*innen haben angegeben, dass sie sich sogar vorstellen könnten, den Quereinstieg in ein komplett neues Berufsfeld zu wagen.4

Wenn Organisationen ihren Angestellten diese Möglichkeiten nicht geben, suchen sie sich etwas anderes: Der am häufigsten genannte Grund für einen Jobwechsel, zusammen mit höheren Verdienstaussichten, war 2021 die Erwartung besserer Karriereoptionen.5 Laut einer McKinsey-Umfrage aus dem Jahr 2023 überlegen 37 Prozent der Angestellten, in den nächsten drei bis sechs Monaten den Job zu wechseln – trotz schlechter Wirtschaftslage.

Dabei gibt es ein Modell, das Entwicklung und neue Karriereoptionen eröffnet und zugleich Flexibilität erlaubt: das Karrieregitter.

89 Prozent würden sich gerne zur Seite entwickeln, also etwa den Fachbereich wechseln.

So funktioniert das Karrieregitter

Das Beratungsunternehmen Deloitte hat nach einer Analyse von Trends in der Arbeitswelt ein Modell entwickelt, um den Mitarbeiter*innen mehr Flexibilität zu gewähren und so auch selbst als Arbeitgeber*in attraktiver zu werden. Das Karrieregitter ist ein Framework mit vier Bereichen, die für die Karriereplanung in den Blick genommen werden sollen:

  1. pace (Geschwindigkeit, mit der Angestellte aufsteigen, also Verantwortung übernehmen und Autorität zugesprochen bekommen),
  2. workload (die Arbeitsbelastung, gemessen in Wochenarbeitszeit),
  3. location/schedule (wo und wann die Arbeit erledigt wird) und
  4. Role (Berufsfeld, Verantwortlichkeiten und Tätigkeiten).

Allerdings steckt auch in diesem Modell die implizite Annahme, dass Aufstieg gleichbedeutend mit beruflichem Erfolg sei – nur sollen nun verschiedene Geschwindigkeiten und Wege diesen möglich machen. Dass das Modell nicht menschenzentriert ist, sondern vor allem die Interessen des Unternehmens im Blick hat, wird zwischen den Zeilen deutlich. In einem Paper, das die bei Deloitte angestellten Autorinnen in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Strategy & Leadership publiziert haben, steht etwa, die größte Sorge vor der Einführung des Modells sei gewesen, dass die Mitarbeiter*innen ihre Arbeitsbelastung reduzieren – eine Sorge, die sich als unberechtigt herausstellte.

Grundsätzlich halten wir den Ansatz für sinnvoll, nützlich und instruktiv. Wir haben aber einige Anpassungen vorgenommen, um Menschen ins Zentrum zu stellen, ihnen also die Entscheidung zu geben, wie genau sie sich entwickeln. Unser Modell besteht aus zwei Bereichen, die sich gegenseitig beeinflussen: dem Arbeitsrahmen und dem Entwicklungspfad.

I. Arbeitsrahmen, der sich aus der Arbeitszeit und der -gestaltung zusammensetzt.

A: Die Arbeitszeit sollte die Grundlage für alle weiteren Überlegungen sein. Sie ist natürlich auch davon abhängig, wie hoch die individuellen finanziellen Bedarfe sind.

Momentan: Wie viele Stunden arbeite ich gerade?

Veränderungswunsch: Wie viele Stunden möchte ich arbeiten? Ist das weniger oder mehr, als ich jetzt arbeite? Kann ich so meine finanziellen Bedarfe decken?

B: Die Arbeitsgestaltung hängt von individuellen Vorlieben und/oder Bedarfen ab.

Momentan: Wo und wann arbeite ich gerade?

Veränderungswunsch: Wo will ich arbeiten? Im Homeoffice oder Büro? Oder beides? Wann will ich arbeiten? Gibt es bestimmte Zeiten, zu denen ich nicht erreichbar bin?

II. Entwicklungspfad, der sich aus dem Rollenprofil und Lernpfaden zusammensetzt.

A: Das Rollenprofil umfasst alle wiederkehrenden Tätigkeiten, die im Berufsalltag anfallen.

Momentan: Welche Rollen habe ich, welche Tätigkeiten führe ich aus?

Veränderungswunsch: Welche Rollen bzw. Tätigkeiten kann ich abgeben, etwa weil sie mir viel Energie rauben und der Organisation gar nicht so viel bringen? (Dabei hilft zum Beispiel unser Tool Rollen-Verortung.6) Welchen Rollen bzw. Tätigkeiten möchte ich mehr Zeit schenken? Was möchte ich perspektivisch übernehmen?

Organisationen sollten eine einfache Übernahme von Tätigkeiten und Verantwortung ermöglichen – etwa über ein Rollenmodell, das Verantwortungsbereiche und wiederkehrende Tätigkeiten zu Paketen zusammenschnürt. Das erlaubt eine Entwicklung in verschiedene Führungs- wie Fachbereiche.

B: Lernpfade eröffnen die Möglichkeit, Neues zu tun. Mitarbeiter*innen sollten Zeit bekommen, um sich zu entwickeln und zu lernen. Niemand mag das Gefühl, festzustecken.

Wie möchte ich mich entwickeln? Möchte ich mehr Führung übernehmen oder mein Wissen in einer Fachrichtung vertiefen? (Falls ich an dieser Stelle merke, dass ich eigentlich eine andere Richtung einschlagen will, sollte ich das im vorigen Schritt anpassen.)

Sobald ich weiß, welche Rolle ich perspektivisch übernehmen muss, gilt die Frage:
Was muss ich tun, um diese Rolle erfolgreich auszuführen? Was muss, was möchte ich dafür lernen?

Möglich ist, dass dich dieser soeben entdeckte Karrierepfad so motiviert, dass du deine Arbeitszeit nach oben korrigieren möchtest oder für deine Ziele mehr aus dem Homeoffice arbeiten möchtest. Die Ebenen beeinflussen einander; Erkenntnisse aus dem einen Bereich können Änderungen im anderen notwendig machen.

Ein Ergebnis kann aber natürlich auch sein, das Private zu priorisieren und für einen bestimmten Zeitraum in der Arbeitszeit jede Entwicklung hinten anzustellen. Auch das ist eine wichtige und vollkommen legitime Karriereentscheidung.

Organisationen fördern vielseitige Entwicklung, indem sie Aufgaben und Verantwortung flexibel übertragen.

Dreistufige Gittergespräche

In der Organisation sollte jede*r Mitarbeiter*in regelmäßig Gelegenheit bekommen, die Bereiche des Karrieregitters zu besprechen – am besten einmal im Jahr und bei Bedarf (zum Beispiel bei notwendigen Änderungen des Arbeitsrahmens durch eine Krankheit) zusätzlich auch mittendrin. Falls es eine strategische Jahresplanung in der Organisation gibt, sollte der Zeitpunkt so gewählt sein, dass sich individuelle Karriereüberlegungen und organisationale Strategieplanung ergänzen.

Wir schlagen drei aufeinander aufbauende Stufen zur Karriereplanung vor: Zuerst sollte der*die Mitarbeiter*in den aktuellen Stand der beiden Bereiche für sich beantworten. Im Gespräch mit einer Vertrauensperson innerhalb der Organisation kann er*sie herausfinden, ob es Änderungswünsche gibt und wenn ja, welche. Dies ist die Grundlage für die dritte Stufe, die sicherstellt, dass die Wünsche innerhalb der Organisation umsetzbar sind bzw. welche Voraussetzungen erst erfüllt sein müssen – wofür das Feedback der Person(en) eingeholt werden sollte, die von den Wünschen betroffen sind.

Falls bestimmte individuelle Karrierewünsche momentan nicht umsetzbar sind, sollten sie bei der strategischen Jahresplanung berücksichtigt werden. Gibt es einen Bereich innerhalb der Organisation, in dem vielleicht gerade das gebraucht wird, wo sich eine Mitarbeiterin hinentwickeln möchte? Wie dringend ist der Wunsch der Mitarbeiterin, falls dem nicht so ist? Gibt es einen Kompromiss, der für beide Seiten akzeptabel ist?

Auch wenn Mitarbeiter*innen nicht alles umsetzen können, was sie im Karrieregittergespräch mit einer Vertrauensperson ermittelt haben, so ist ein bedeutender Schritt der Karriereplanung geschehen: Der*die Mitarbeiter*in hat Klarheit darüber erlangt, was er*sie eigentlich will. Das kann auch für die Organisation ein wichtiger Indikator sein, welche Tätigkeiten gerade besonders viel Energie geben und welche eher nicht. Wenn etwa ein Rollen- oder Tätigkeitswechsel aus welchen Gründen auch immer nicht möglich ist, können unliebsame Tätigkeiten häufig trotzdem anders verteilt oder besser geplant werden.

Allein die Existenz des Karrieregitters wird Mitarbeiter*innen das Signal geben, dass sie sich innerhalb der Organisation entwickeln können und nach Wegen gesucht wird, die berufliche Situation mit der privaten bestmöglich zu vereinbaren. Wichtig ist aber, dass die Organisation die Ergebnisse der Gittergespräche ernst nimmt. Dann ist es eine Chance für die Organisation, einen Entwicklungsraum für Mitarbeiter*innen zu öffnen, der motiviert – und die Chance bietet, agil auf die Anforderungen der BANI-Welt zu reagieren.

Nach der Einführung ihres Modells hat Deloitte eine Umfrage unter ihren Mitarbeiter*innen gemacht. Das Ergebnis: Trotz des Fokus auf vertikales Fortkommen gaben 90 Prozent von ihnen an, die Einführung des Modells habe die Entscheidung, im Unternehmen zu bleiben, positiv beeinflusst.7 Was ist also wohl erst möglich mit einem menschenzentrierten Modell, das horizontale Karrierepfade als gleichwertig erachtet?

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