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Abstrakte bunte Muster und geometrische Formen, die übereinander liegen
Case Study

Das Bedarfsprinzip: Ein Gehaltsmodell, das zur Organisation passt

  • Text: Martin Wiens
  • Illustration: Dominik Wagner

Bei Mein Grundeinkommen bestimmt in erster Linie der Bedarf das Gehalt, nicht die Leistung. Jede*r soll so viel bekommen, dass er*sie den Kopf frei hat, um gut zu arbeiten. Ist das fair? Und lässt sich das Modell übertragen?

Mein Grundeinkommen e.V. erforscht die Einführung einer finanziellen Zuwendung, die jede*r Bürger*in ohne Gegenleistung vom Staat erhält. Seit 2014 sammelt der Verein per Crowdfunding Geld. Sobald 12.000 Euro zusammenkommen, wird es als einjähriges Grundeinkommen verlost. Das ist bis heute so – vieles andere hat sich jedoch geändert. Aus einem Team, das sich in erster Linie ehrenamtlich für ein bedingungsloses Grundeinkommen einsetzt, ist ein professioneller, gemeinnütziger Verein geworden, der selbstorganisiert und rollenbasiert arbeitet.

Inzwischen beschäftigt Mein Grundeinkommen 36 Menschen und wird von über 185.000 sogenannten Crowdhörnchen unterstützt. Monatlich kommen dadurch durchschnittlich 835.000 Euro zusammen. Etwas mehr als die Hälfte der Spender*innen verfügt, dass das Geld nur zur Verlosung bestimmt ist. Die anderen spenden es dem Verein, was monatlich etwa 380.000 Euro ausmacht. Mit den steigenden Spendeneinnahmen haben sich die Mitarbeiter*innen immer wieder die Frage nach einem angemessenen Gehalt gestellt und ein Gehaltssystem entwickelt, das sich vor allem an Bedarfen ausrichtet.

Der Prozess hin zum Bedarfsgehalt

Zu Anfang fehlte Mein Grundeinkommen schlichtweg das Geld, um den Mitarbeiter*innen Einkommen zu zahlen, die ihre tatsächlichen Bedarfe gedeckt hätten. 2016, zwei Jahre nach der Vereinsgründung, arbeiteten dort sieben Personen auf Honorarbasis. Einer von ihnen war Steven Strehl. Er war damals als Programmierer tätig, seit Ende letzten Jahres ist er im Vorstand. Rückblickend spricht er von den damaligen Honoraren als „Pseudo-Bedarfsgehalt“: „Jede*r hat nur so viel in Rechnung gestellt, wie sie*er unbedingt brauchte.“

Mit der Einführung einer neuen, leistungsfähigeren Kampagnenplattform im April 2017 begann laut Steven eine neue Phase. „Das Spendenvolumen ist dann schnell angestiegen“, sagt er. Dadurch konnten die mittlerweile 15 Mitarbeiter*innen fest angestellt werden. Zugleich wuchs mit den Spenden und der Mitarbeiter*innenzahl der Anspruch, ein strukturiertes und standardisiertes Gehaltssystem zu entwickeln. Der Verein erstellte ein Infoblatt zum Bedarfsprinzip und den Parametern zur Bedarfsermittlung, die insbesondere neue Mitarbeiter*innen dabei unterstützen soll, den eigenen Bedarf zu ermitteln. Auf einer Bedarfsliste stehen Kosten, die man berücksichtigen sollte: etwa für Versicherungen, das ÖPNV-Ticket, aber auch Freizeitaktivitäten und um Rücklagen zu bilden.

„Jede*r hat nur so viel in Rechnung gestellt, wie sie*er unbedingt brauchte.“

Steven Strehl

Greta Stahr kam in dieser Phase zu Mein Grundeinkommen. Ihre Fachrolle ist der redaktionelle Bereich, sie arbeitet im Campaigning und ist Lead-Link ihres Kreises. In ihren ersten Tagen wurde diskutiert, ob der Verein sich einen Wasserkocher für 20 Euro leisten kann, erinnert sich Greta. „Da denkt man noch mal ganz anders über den eigenen Bedarf nach.“ Als sie schließlich ihr Nettogehalt festgelegt hatte, bekam sie eine E-Mail von der Personalabteilung zurück. Routinemäßig wurde damals mitgeteilt, wie weit das Gehalt vom Durchschnittsbedarf entfernt ist. Greta war leicht darüber. „Das hat sich nicht gut angefühlt.“ Schließlich kündigte sie ein Zeitungsabo und konnte so ihren Bedarf nach unten korrigieren.

„Wenn eine kaputte Waschmaschine zur Bedarfsänderung führt, dann ist der Bedarf zuvor nicht hoch genug gewesen. Man sollte damit in der Lage sein, solche Ausgaben zu decken“

Greta Stahr

Was passiert, wenn sich jemand bei Mein Grundeinkommen bewirbt?

Wer sich heute bei Mein Grundeinkommen bewirbt, ermittelt seinen individuellen Bedarf noch immer mithilfe des Infoblattes zum Bedarfsprinzip und der Bedarfsliste. Die genannte Summe wird dann ausgezahlt, sofern die finanzielle Lage des Vereins es zulässt. Dadurch sollen alle „den Kopf frei haben“ (so steht es im Infoblatt) und sich finanziell sicher fühlen.

Seit März 2019 organisiert sich das Team von Mein Grundeinkommen holokratisch. Die Ansätze von Frederic Laloux aus Reinventing Organisations sowie von Joana Breidenbach und Bettina Rollow aus New Work Needs Inner Work prägten diese Form der Zusammenarbeit. Der Verein arbeitet folglich rollenbasiert und selbstorganisiert.

Zur Verwaltung der Rollen verwenden sie das Organisationsprogramm Holaspirit. Dort sind auch Sinn und Zweck, Domänen, Verantwortlichkeiten und Richtlinien der jeweiligen Rollen hinterlegt. Die folgenden Rollenbeschreibungen sind Ausschnitte der Programmeinträge.

Im ersten Schritt erklären die beteiligten Rollen die Grundprinzipien des Vereins, darunter das Bedarfsprinzip. Die Einstellung neuer Mitarbeiter*innen machen ein*e Job-Companion und ein*e Admin-Companion, die beide mit dem*der Bewerber*in fachlich zusammenarbeiten würden, sowie der*die Lead-Link des einstellenden Kreises. Beim zweiten Treffen erhält der*die Bewerber*in die Bedarfsliste und das Infoblatt.

Insbesondere Berufsanfänger*innen setzten ihr Gehalt allerdings trotz der Hilfestellungen häufig zu niedrig an. „Wenn eine kaputte Waschmaschine zur Bedarfsänderung führt, dann ist der Bedarf zuvor nicht hoch genug gewesen. Man sollte damit in der Lage sein, solche Ausgaben zu decken“, findet Greta. Das sei auch im Interesse der Organisation, schließlich nähme jede Bedarfsänderung Ressourcen in Anspruch. Zudem stehen in der Bedarfsliste Kommentare darüber, wie flexibel verschiedene Ausgaben sind. Während Haushaltsausgaben größtenteils als Fixkosten kategorisiert sind, seien Kosten für Freizeitaktivitäten variabel. Diese Angaben sind im nächsten Schritt für die Mitarbeiter*in wichtig, um den Mindestbedarf zu definieren.

Was brauche ich?

Die Bedarfsliste von Mein Grundeinkommen e.V.

Orientierungshilfe zur Ermittlung des Bedarfs (Stand: August 2021)

Um deinen Bedarf zu ermitteln, sollen die unten stehenden Aufzählungen eine Orientierungshilfe darstellen.
Die aufgelisteten Punkte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir haben auch davon abgesehen, Empfehlungen auszusprechen („man sollte X Prozent seines Einkommens sparen“/„nicht mehr als X Prozent für Miete ausgeben“), da wir der Ansicht sind, dass dies individuelle Entscheidungen sind, in die viele Aspekte mit einfließen – von Kindheitserinnerungen bis zum persönlichen Sicherheitsbedürfnis.

Haushaltsausgaben

Miete, Wasser-, Heizungs-, Strom- und gegebenenfalls Abfallentsorgungsrechnungen, Rundfunkgebühren, Kreditraten, Wartungsarbeiten, Kosten für Kinderbetreuung, Versicherungen
Haushaltskosten sind hauptsächlich Fixkosten, die jeden Monat in gleichem Maße anfallen.

Lebenshaltungskosten

Nahrungsmittel, Kosten für Fortbewegungsmittel, Körperpflegeprodukte und Bekleidung
Lebenshaltungskosten sind relativ flexibel, da es hier eine große Bandbreite an Preisklassen gibt – allerdings kann man diese Kategorie nicht auf Null reduzieren.

Freizeitkosten

Theater-, Konzert- und Kinobesuche, Sport- und andere Freizeitaktivitäten, Vereinsmitgliedschaften sowie Ausgaben für Urlaub
Freizeitkosten sind flexibel und könnten gegebenenfalls zu einem gewissen Zeitpunkt auf null reduziert werden.

Rücklagen

Beträge für Notfälle und zukünftige Ausgaben, Altersvorsorge, Sparrate
Je nach zugrunde liegender Police sind diese Beträge mehr oder weniger flexibel.

Das Infoblatt führt zunächst das Prinzip hinter dem Bedarfsgehalt ein: Der*Die Bewerber*in soll ihren Bedarf so setzen, dass sie gut leben kann. Was ein gutes Leben ist, unterliegt der eigenen Einschätzung. Mein Grundeinkommen macht dabei deutlich, dass das Bedarfsprinzip eine Abkehr vom leistungs- und zeitbasierten Gehalt ist. Den größten Teil des Infoblattes nimmt eine Anleitung zur Ermittlung des individuellen Bedarfs ein. Fragen zu vier Parametern helfen dabei, herauszufinden, wie hoch der eigene Bedarf tatsächlich ist, ob dieser angemessen und fair ist, und wie Bedürfnisse gegebenenfalls auf anderem Wege erfüllt werden können.

Den individuellen Bedarf ermitteln

Dein individueller Bedarf kann anhand verschiedener Faktoren ermittelt werden. Folgende Kriterien/Fragen können dir helfen, auf die Zahl zu kommen. Wichtig: Dein Bedarf ist immer eine Nettozahl (Was kommt raus?).

Bedürfnisparameter

(Was brauche ich, was will ich?)

  • Welche finanziellen/anderen Bedürfnisse habe ich, die erfüllt sein müssen?
  • Was sind meine aktuellen Lebenshaltungskosten? (Miete, Essen, Monatskarte, Versicherungen, Altersvorsorge, Unterhalt u.a.)
  • Wo will ich mittelfristig finanziell stehen?
  • Habe ich ein anderes Einkommen, das diese Kosten deckt?
  • Was ist mir wichtig(er): ein bestimmtes Gehalt, eine bestimmte Arbeitszeit, ein bestimmtes Maß an Verantwortung?
Verhältnismäßigkeitsparameter

(Was ist angemessen?)

  • Welchen Beitrag bringe ich in die Organisation ein?
  • Wie viel Berufserfahrung bringe ich mit?
  • Welche Qualifikationen und Fähigkeiten bringe ich mit?
  • Wie viel Arbeitszeit möchte ich ca. investieren?
  • Was würde ich woanders verdienen? (min./max.)
Organisationsparameter

(Was ist möglich, was ist fair?)

  • Wie wirkt sich mein Bedarf auf die kurzfristigen und langfristigen Finanzen der Organisation bzw. der anderen Partner*innen aus?
  • Was ist der Bedarf meiner Kolleg*innen? (Durchschnitt Stand Juli 2021: 2.550 Euro netto)
  • Wie wirkt sich mein Bedarf auf die Möglichkeit aus, neue Stellen zu schaffen, die mich, andere oder alle Partner*innen entlasten?
  • Woher kommt das Geld, was meinen Bedarf finanzieren soll? Wie steht mein Bedarf im Verhältnis zu denen, die das Geld geben?
Ideelle Parameter

(Was kann wie kompensiert werden?)

  • Welche Bedürfnisse habe ich, die durch nicht-materielle Leistungen erfüllt werden können? (z.B. Spaß an der Arbeit, Weiterbildung, Mitbestimmung, flexible Arbeitszeiten, Urlaubsregelung etc.)

Auf Grundlage dieser Informationen, Parameter und Reflexionsanreize gibt der*die Bewerber*in im Anschluss an die zweite Gesprächsrunde drei Zahlen an: einen Mindest- und einen mittleren Bedarf sowie ein utopisches Gehalt. Dank des Mindestbedarfs weiß der Verein, welches Gehalt auf jeden Fall ausgezahlt werden muss, selbst wenn er in finanzielle Schieflage gerät. Das bedeutet „wir müssen den Laden nicht gleich dicht machen, falls die Spenden mal wegfallen“, sagt Natalie Schlüter Higgins, die seit Februar 2021 bei Mein Grundeinkommen und vor allem in der operativen und strategischen Personalarbeit tätig ist. Der Bedarf, der tatsächlich gezahlt wird, ist der mittlere. Das utopische Gehalt dagegen ist Steven zufolge ein Relikt aus den Anfangstagen, als tatsächliche Bedarfe noch nicht bedient werden konnten – aus „Pseudo-Bedarfsgehalt“-Zeiten.

„Wir müssen den Laden nicht gleich dicht machen, falls die Spenden mal wegfallen“

Natalie Schlüter Higgins

Nach einem letzten Gespräch schreibt die Rolle Job-Companion eine Nachricht über die Messaging-App Slack an alle. Darin steht, wen das Team ab wann für welche Rolle(n) ausgewählt hat. Außerdem führt ein Link zum Lebenslauf und ein anderer zu einer sogenannten Scorecard, die Notizen aus den Auswahlgesprächen enthält. Auch den Bedarf des*der Bewerber*in gibt der*die Job-Companion an. Von Montag bis Donnerstag haben dann alle Zeit, ihr Veto einzulegen. Dabei stehe weniger das Gehalt im Vordergrund, sondern andere schwerwiegende Vorbehalte: „Wenn jemand wüsste, die neue Person wäre beispielsweise ein Nazi, dann könnte man ein Veto einlegen“, sagt Greta. Probleme mit einer als zu hoch oder tief empfundenen Bedarfsangabe werden dagegen spannungsbasiert geklärt: Eine Nachfrage gibt der Person die Möglichkeit, den Bedarf zu erklären.

Und wenn sich der Bedarf ändert? – Die Bedarfsrunden

Halbjährlich treffen sich die Mitarbeiter*innen zu sogenannten Bedarfsrunden. Dort kommunizieren die Mitarbeiter*innen, in welcher Höhe ihr Bedarf sich ändert. Ob sie Gründe dafür nennen, bleibt ihnen überlassen. Jede*r weiß aber, wie hoch der Bedarf der anderen ist. Natalie legt dafür in ihrer Rolle Talent-Management den Termin fest und fragt alle bei Mein Grundeinkommen nach Änderungen im Bedarf. Wer eine hat, antwortet per E-Mail und schreibt meist gleich dazu, warum diese Bedarfsänderung notwendig ist. Beispielsweise sind die Geburt eines Kindes oder steigende Mieten Gründe für einen gestiegenen Bedarf. Herabsetzungen gibt es etwa aufgrund von Einnahmen aus anderer Quelle oder einer beruflichen Auszeit. In der eigentlichen Runde erklären die Mitarbeiter*innen die Gründe für die Bedarfsänderungen noch einmal detaillierter.

Dabei gebe es große Unterschiede in der Begründung, einige seien eher sachlich, andere gefühlsbetont. „Wer besonders emotional ist, der wird eher darin unterstützt“, ist Gretas Eindruck. Bei Bedarfsrunden geht es Steven zufolge in der Praxis nicht darum, den Betrag zu genehmigen, sondern Austausch zu schaffen. Der solle helfen, ein gemeinsames Verständnis für den individuellen Bedarf der Person zu bekommen.

Prinzipiell kann es dennoch vorkommen, dass Bedarfsänderungen nicht akzeptiert werden. Würden sie die wirtschaftliche Lage des Vereins gefährden, hat die Rolle Finanzen-Management ein Vetorecht. Dazu ist es allerdings noch nicht gekommen. In den letzten dreieinhalb Jahren ist der Anteil der Gehälter an den Vereinseinnahmen von 70 Prozent auf unter 40 Prozent gesunken – nicht wegen sinkender Bedarfe, sondern steigender Vereinseinnahmen.

Steven setzt die verschiedenen Bedarfe der Mitarbeiter*innen ins Verhältnis, Bedarfsänderungen bereitet er grafisch auf und zeigt verschiedene Perspektiven auf: Welchen Einfluss haben das Geschlecht, das Alter, die Betriebszugehörigkeit oder die Arbeitszeit auf die Höhe? Dadurch können die Mitarbeiter*innen ihre Bedarfe besser einordnen.

In der Grafik rechts sind Veränderungen des Bruttostundenlohns nach der Bedarfsrunde kenntlich gemacht, nicht jedoch die Höhe des Monatsgehalts, da die Wochenarbeitsstunden nicht abgebildet sind. Jeder Balken repräsentiert eine*n Partner*in von Mein Grundeinkommen e.V.

Die vier Grundpfeiler des Modells

Diese vier Faktoren waren bei der Entwicklung eines passenden Gehaltsmodells für Mein Grundeinkommen ausschlaggebend:

1. Pragmatismus

Als 2017 das erste Mal genug Geld für bedarfsgerechte Gehälter da war, hatte Mein Grundeinkommen personell keine überschüssigen Kapazitäten. Im Laufe des Jahres wurden 15 Personen fest angestellt. Zeit für lange Gehaltsverhandlungen und mehrere Schleifen gab es damals nicht. Das Modell sollte möglichst simpel sein und zugleich die individuellen Bedarfe der Mitarbeiter*innen decken.

2. Flexibilität

Der Verein ist von Spenden abhängig. Fallen sie weg, gefährdet das die Existenzgrundlage des Vereins. Das Gehaltsmodell muss in regelmäßigen Zyklen angepasst werden können und erlauben, in Notsituationen kurzfristig Änderungen vorzunehmen.

3. Kulturelle Passung

Geld ist für das Wesen des Vereins ein zentraler Bestandteil. Um den Zweck von Mein Grundeinkommen zu erfüllen, braucht es Mitarbeiter*innen, die offen über Geld sprechen wollen und können. Zugleich soll das Gehalt den Mitarbeiter*innen existenzielle Sorgen nehmen. Im Idealfall sind interne Lösungen prototypisch für andere Organisationen.

4. Transparenz

Die jeweiligen Bedarfe (und damit die Gehälter) sind innerhalb des Vereins allen bekannt. Das gilt auch für die Höhe der Vereinseinnahmen, sodass die Mitarbeiter*innen ihr Gehalt ins Verhältnis setzen können. Zusätzlich kommuniziert Mein Grundeinkommen das Nettodurchschnittsgehalt nach außen.

Das Bedarfsprinzip: ein gerechteres Modell?

Greta, Natalie und Steven sind der Meinung, dass das Bedarfsprinzip grundsätzlich fair ist. Schließlich habe es nie fundamentale Beschwerden gegeben. Wer nicht über einzelne Bedarfe, sondern über das Prinzip an sich sprechen möchte, kann dafür mit einer Spannung an Natalie herantreten, die in ihrer Rolle Talent-Management dafür zuständig ist. Das meiste ihr Zugetragene sei bisher eher anekdotisch, so Natalie. Trotzdem hat sie sich ein paar Dinge vorgenommen: Die Bedarfsliste braucht ein Update, bei den Parametern soll der Faktor Zeit stärker Eingang finden und eine externe Gehaltsbenchmark eingeführt werden. Solche Änderungen sind aber heikel, weiß Natalie. Wenn Arbeitszeit und marktübliche Preise einen stärkeren Eingang in das Gehaltssystem finden sollen, kann dann noch von einem Bedarfsprinzip gesprochen werden?

Für Mein Grundeinkommen beginnt gerade eine neue, dritte Phase, die die „Kopf-frei“-Wirkung des Bedarfsgehaltssystems auf den Prüfstand stellt. „In diesem Jahr habe ich vorgeschlagen, wir ownen das richtig und fangen an, es zu beforschen“, sagt Steven. Zum Beispiel hat das Team festgestellt, dass bei Mein Grundeinkommen Männer trotz des Bedarfsprinzips mehr verdienen als Frauen. „Die Gender-Pay-Gap von 8,5 Prozent soll noch in diesem Jahr beseitigt werden“, sagt Steven. Aber wie?

Man könnte die Gehälter der Frauen automatisiert anheben, das würde jedoch die individuelle Autonomie zur Bedarfsänderung verletzen. Vorhaben, die eigentlich offenkundige Ungerechtigkeiten begradigen sollen, greifen damit schnell den Kern des Bedarfsprinzips an. Während sich Faktoren wie das Gehaltsbenchmark oder die Arbeitszeit systemisch relativ leicht integrieren ließen, müsste man, um ein in erster Linie bedarfsgerechtes Gehaltssystem beizubehalten, auch andere, viel persönlichere Faktoren miteinbeziehen und abfragen. Dabei ginge es um das jeweilige Elternhaus, um mögliche Erbschaften und zum Beispiel um die Frage, ob die Spekulation mit Kryptowährungen ein legitimes Bedürfnis ist. Dadurch wäre das Gehaltssystem transparenter und vielleicht sogar noch fairer, aber würde nicht mehr auf Vertrauen und Selbsteinschätzung basieren – ein Scheideweg.

Zum Weiterdenken

Takeaways

  • Bei dem Verein Mein Grundeinkommen bemisst sich das Gehalt der Mitarbeiter*innen vor allem an ihrem Bedarf. Das nennt sich Bedarfsprinzip.
  • Den individuellen Bedarf ermitteln neue Mitarbeiterinnen mithilfe einer Bedarfsliste und eines Infoblattes zum Bedarfsprinzip. Jeder Bewerber*in gibt im Anschluss einen Mindestbedarf, einen mittleren Bedarf und ein utopisches Gehalt an.
  • Ausgezahlt wird – wenn es keine Vetos gibt – der mittlere. Da sich Bedarfe regelmäßig ändern, beispielsweise aufgrund von Mieterhöhungen oder Schwangerschaften, gibt es halbjährliche Bedarfsrunden, in denen sich alle über Änderungen austauschen.
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