Was tun, wenn jedes Jahr 130 Pflegekräfte das Unternehmen verlassen? Das Born Gesundheitsnetzwerk hat die hohe Fluktuation zum Anlass genommen, ein Organisationsmodell zu entwickeln, in dem die Menschen bleiben wollen.
Das Born Gesundheitsnetzwerk
Das Born Gesundheitsnetzwerk besteht aus sieben Pflege- und einem Handwerksunternehmen und hat rund 600 Mitarbeiter*innen. Der größte Bereich ist mit vier Unternehmen, 300 Mitarbeitenden und 55 Kund*innen die außerklinische Intensivpflege. Hier geht es um die Versorgung von schwerstpflegebedürftigen Kindern und Erwachsenen, die größtenteils in einer eigenen Wohnumgebung leben und beispielsweise beatmet werden müssen. Weil jederzeit eine lebensbedrohliche Situation eintreten kann, sind Pflegekräfte rund um die Uhr vor Ort: 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.
Der Intensivbereich ist dezentral aufgestellt: Die Pflegekräfte fahren von ihrer eigenen Wohnung zur Wohnung des*der Patient*in, bleiben dort je nach Schicht acht bis zwölf Stunden und fahren nach der Ablösung wieder nach Hause. Eine Zentrale, wo sich die Mitarbeiter*innen regelmäßig begegnen, gibt es nicht.
Neben der häuslichen Pflege betreibt das Born Gesundheitsnetzwerk drei Wohngemeinschaften mit jeweils sechs bis zwölf Bewohner*innen.
Wenn jedes Jahr 130 Mitarbeiter*innen aufhören und 130 neue dazukommen, muss ein Unternehmen, das 600 Personen beschäftigt, immer wieder von vorne anfangen. „Einmal im Jahr mussten wir uns quasi erneuern“, sagt Yves Michaelis. Michaelis ist Geschäftsführer von vier der sieben Pflegedienste des Born Gesundheitsnetzwerks.
Solche Zahlen sind nicht untypisch für die Intensivpflege. Yves erklärt: „Die Arbeit ist extrem fordernd: Man ist bis zu zwölf Stunden am Stück bei einem*einer Kund*in, häufig mitten in einer Familie, ohne zur Familie dazuzugehören. Das ist nicht für jede*n das Richtige.“ Trotzdem findet Yves, dass Zahlen, wie sie zwischen den Jahren 2013 und 2018 bestanden, nicht richtig sein können. Er sah die Fluktuation als Symptom einer dysfunktionalen Organisation und machte das an zwei Hauptursachen fest:
- Eine Führungsebene, die unterschiedlicher Auffassung darüber ist, was der Purpose bzw. Daseinszweck des Unternehmens ist und deshalb eine unklare Ausrichtung kommuniziert
- Eine hierarchische Entscheidungsstruktur, die Verantwortung und Entscheidungsmacht zentralisiert und nicht zur räumlich dezentralen Struktur des Unternehmens passt.


Umbau der Geschäftsführung: „Was wäre, wenn Simon rausgeht?“
Bis Ende 2020 führte eine Dreier-Geschäftsführung aus Yves Michaelis, Simon Born und Veronika Born das Netzwerk. Veronika kümmerte sich um die ambulanten Pflegedienste, Yves und Simon um den Intensiv- und den Servicebereich. Das Born-Ehepaar hatte das Unternehmen im Jahr 2004 übernommen. Yves kam im Jahr 2010 dazu. Seit 2013 ist er Teil der Geschäftsführung.
Was schnell klar wurde: Simon und Yves hatten unterschiedliche Haltungen dazu, wie der Intensivbereich geführt werden sollte. Simon versuchte in seiner Führungsrolle am Leben seiner Mitarbeiter*innen teilzunehmen und für alle ansprechbar zu sein. Er beschreibt das als eine Art „Großer-Bruder-Rolle“. Und ergänzt: „Meiner Erfahrung nach funktioniert so ein Führungsstil bis zu einer Grenze zwischen 80 und 110 Mitarbeiter*innen.“ Danach ist es schlichtweg nicht mehr möglich, ein solches 1:1-Betreuungssystem aufrechtzuerhalten.
Lange Zeit machte Yves einfach mit. Er bezeichnet sich selbst als Trittbrettfahrer. Nach und nach wurde ihm aber klar, dass er eigentlich etwas anderes wollte. Ein Augenöffner war für ihn das Buch Reinventing Organizations von Frédéric Laloux: „Entweder mache ich das SO oder ich muss gehen“, dachte er nach der Lektüre. Er versuchte von da an weniger, die Menschen zu entwickeln, sondern Strukturen zu schaffen, in denen sich die Menschen selbst entwickeln können. Und Simon ließ ihm den Freiraum dafür.
Trotzdem führten die unterschiedlichen Stoßrichtungen von Simon und Yves immer wieder zu Zielkonflikten und einer zunehmend schwammigen Ausrichtung nach innen. Wenn Yves etwas ausprobierte, hieß es in der Mitarbeiter*innenschaft oft: „Herr Born hat aber gesagt …“

Interview mit Simon Born
Im Februar 2020 haben Sie beschlossen, zum Ende des Jahres aus der Geschäftsführung rauszugehen. Mit 45 Jahren. Wie kam es dazu?
Schon länger war klar, dass die Charaktere in unserer Dreier-Geschäftsführung sich gegenseitig ausbremsen. Yves Michaelis und ich ließen uns von einem Coach begleiten. An dem Tag, an dem die Entscheidung gefällt wurde, kamen wir um 18 Uhr an und beschlossen, noch eine Einheit zu machen. Um 22 Uhr stellten wir uns die Frage: „Was wäre, wenn du rausgehst?“ Die Frage haben wir dann verschoben zu: „Was bräuchtest du, damit das so sein kann?“ Als das geklärt war, entwickelten wir einen Vier-Stufen-Plan bis Ende 2020. Und Anfang 2021 verließ ich das Unternehmen.
Klassischerweise tauchen in solchen Prozessen Egoprobleme auf. Gab es die bei Ihnen auch?
Ja, ich habe kein so kleines Ego. Anfangs fragte ich mich: Wer ist Simon Born ohne 600 Mitarbeiter*innen? Heute ist das nicht mehr meine Frage. Ich habe erkannt, dass der Wert von mir als Person nicht davon abhängt, ob ich Geschäftsführer einer Firma bin. Ein großer Anteil in mir sagt: „Wo andere mit 60 sind, bin ich mit 45. Ist doch toll!“ Und natürlich gibt es auch einen kleineren Teil, der sich darüber beklagt, dass jetzt keine*r mehr Beifall klatscht.
Was hat Ihnen in dem Prozess geholfen?
Ich glaube, es braucht Menschen von außen, die eine Veränderung einfordern. Das war in meinem Fall Yves Michaelis. Und es braucht eine hohe Reflexionsfähigkeit und die Bereitschaft, da hinzugucken, wo man nicht so gerne hingucken möchte. Jetzt führe ich ein kleines Handwerksunternehmen und habe in diesem Jahr mehr physisch gearbeitet als in den letzten fünf Jahren zusammen. Und ich bin dankbar dafür.
Im Februar 2020 sprachen Yves und Simon, begleitet durch ihren Coach Georg Sutter, zum ersten Mal über eine Möglichkeit, die lange unvorstellbar schien: „Was wäre, wenn Simon rausgeht?“ Das zweitägige Coaching orientierte sich an folgenden, im Kontext von Otto Scharmers Theorie U entwickelten Fragen:
- Mein Empfinden gegenüber der Ist-Situation: Was mag ich an der jetzigen Konstellation und den daran geknüpften Zusammenarbeits- und Rollenimplikationen? Woraus schöpfe ich Energie? Was frustriert mich daran?
- Meine Wahrnehmung der Realität: Was sind für mich persönlich die Schlüsselherausforderungen und harten Wahrheiten, denen ich in der jetzigen Gesamtkonstellation begegne?
- Meine Perspektiven erweitern: Was sind mögliche Hindernisse, die mich persönlich an den Status des gegenwärtigen Systems „binden“ oder die es mir erschweren, einfach loszulassen?
- Mein Blick in die Zukunft: Was würden die entworfenen alternativen Szenarien für mich persönlich bedeuten? Mit welchem „Alten“ würde ich aufhören und welche neuen Perspektiven würde ich dadurch gewinnen?
- Meine Zuversicht: Was könnte für mich persönlich Neues entstehen bzw. was soll sich für mich persönlich Neues realisieren? Was ist für mich der Kern dessen, was sich hier an Neuem abzeichnet?
Seit Januar 2021 ist Simon nicht mehr als Geschäftsführer dabei. Yves leitet nun sowohl den Intensivpflegebereich als auch den Servicebereich. Zum Weggang von Simon sagt er: „Das ist die mutigste Tat, die ein*e Unternehmer*in treffen kann: die eigenen Bedürfnisse nicht vor die des Unternehmens zu stellen.“
Die Bereichsleitung schafft sich selbst ab
Was den Intensivpflegebereich vom Born Gesundheitsnetzwerk besonders macht, ist sein dezentraler Charakter. Die allermeisten Mitarbeiter*innen bewegen sich täglich von ihrer privaten Wohnung zu der eines*einer Kund*in. Zwar gibt es Büros an vier Standorten, eine gemeinsame Anlaufstelle jedoch nicht. Was es aber bis ins Jahr 2016 hinein gab: ein stark zentralisiertes Management. Yves arbeitet seit Jahren daran, die Organisation dezentraler aufzustellen, seit der Umstellung in der Geschäftsführung verläuft diese Transformation schneller.
Die Hierarchie-Ebenen in der Vergangenheit sahen folgendermaßen aus:
- Geschäftsführung
- Bereichsleitung
- Teamleitung
- Teammitglieder.
Ein*e Bereichsleiter*in betreute zwischen vier und sieben Teamleiter*innen, ein*e Teamleiter*in bis zu vier Kunden und 15 bis 20 Pflegekräfte, also Teammitglieder. Dieses Gefüge führte zu Verantwortungseskalation und schlechten Entscheidungen. „Dass ich zentral in Bergkamen entscheide, was in Berlin passiert, ergibt keinen Sinn“, sagt Yves.
4-Stufen-Plan für den Übergang

Eine der Bereichsleiter*innen ist Janina Weichaus. In wenigen Wochen wird aus dem „ist“ ein „war“, denn Janinas Bereichsleiter-Rolle wird es in Zukunft nicht mehr geben. Früher war sie den Teamleiter*innen weisungsbefugt und vor allem als Konfliktlöserin unterwegs: Bei Kundenbeschwerden aktivierten die Teamleiter*innen die Bereichsleitung, die dann losfahren musste, um das Problem zu klären. In ihrem ersten Jahr als Bereichsleitung war sie ungefähr dreimal pro Woche auf Beschwerdebesuchen. Mittlerweile hat sich das vollständig erledigt.
Stattdessen hat Janina ihre Rolle weiterentwickelt zur Organisationsfloristin. Sie möchte Menschen „zum Aufblühen bringen“. Ihre wichtigsten Aufgaben im Jahr 2021: Purpose und Mission für alle Menschen in der Organisation erfahrbar zu machen und das neue Steuerungsmodell nach und nach ausrollen.

Purpose & Mission
Purpose
Wir begegnen Menschen uns selbst liebend, vertrauensvoll, wertschätzend und zugewandt, damit uns allen ein kraftvolles (Er-)Leben in Zuversicht und Verbundenheit sowie in einer vielfältigen und friedvollen Gesellschaft möglich wird.
Mission
Für unsere Kund*innen:
Wir wissen, dass Krankheit eine Familienangelegenheit ist. Deshalb versprechen wir, Sie und Ihre Familie als wertvolle Menschen bedingungslos anzunehmen und Ihnen Halt und Fürsorge für ein eigenverantwortliches, von Ihnen gewünschtes Leben in Selbständigkeit zu geben.
Für unsere Mitwirkenden:
In unserer gemeinsamen Verantwortung für den*die Kund*in versprechen wir einander, für ein Umfeld zu sorgen, in dem jede*r Einzelne als wertvoller Teil des Ganzen gesehen wird.
Teamleitungen werden zu Expert*innen
Und nicht nur die Bereichsleitungen schaffen sich nach und nach ab. „Im nächsten Jahr wird es bei uns kein Team mit Teamleitung mehr geben“, sagt Janina. Beate Bieck ist Teil des ersten vollständig selbstorganisierten Wohnkonzepts, das sie intern WoKo 1 nennen. In dem Wohnkonzept arbeiten dreizehn Personen und zehn Auszubildende. Sechs Kund*innen sind Teil des WoKos. Eine Teamleitung gibt es nicht.
„Wir haben mit der Selbstorganisation vor zweieinhalb Jahren angefangen und dachten, das ist völlig easy“, sagt Beate. Jedoch treten immer wieder Organisationslücken auf – beispielsweise, wenn sich plötzlich jemand krank meldet. Früher lief das dann so: Die Teamleitung rief Janina in ihrer Rolle als Bereichsleitung an und bat sie darum, jemanden für die fehlenden Dienste zu suchen. Ohne Bereichsleitung braucht es stattdessen eine klare Regel: Wenn sich eine Person kurzfristig krank meldet, sind die Kolleg*innen im Dienst dafür verantwortlich, die nächste Dienstlücke abzudecken. Dann ist beispielsweise der Spätdienst abgedeckt, der nächste Tag aber noch offen. Um den kümmert sich dann der Spätdienst, und so weiter.
Auch die Kommunikation mit Kund*innen ist direkter geworden: Früher hat der*die Betreuer*in eines*einer Kund*in der Pflegekraft gesagt, was sie sich wünscht. Die Pflegekraft hat das an die Teamleitung weitergegeben, die sich an den*die Betreuer*in gewandt hat. Heute sprechen Pflegekraft und Betreuer*in einfach direkt miteinander.
Alle drei Wochen treffen sich Beate und ihre Teammitglieder, um organisationale Themen zu besprechen. Was sich bereits herausgestellt hat: Es fehlt eine Person, die im Blick behält, ob die vorhandenen Prozesse funktional sind und sie weiterentwickelt. Einen Namen hat diese Rolle noch nicht. Aber Beate weiß schon, dass sie die Rolle gerne übernehmen möchte. Diese Expert*innen-Rolle ist auch das Ergebnis eines Lernprozesses. „Wir schaffen bisherige Leitungsrollen ab, aber überlassen die Mitarbeiter*innen nicht sich selbst“, sagt Yves, „denn das Thema Führung hat sich ja nicht erledigt, nur die Führungskraft.“ Deshalb entstehen gerade immer mehr Expert*innen-Rollen wie die von Beate. Diese Rollen bringen besonders viel Wissen in einem Themenbereich mit und unterstützen die Teams dabei, kluge und zielführende Entscheidungen zu treffen. „Eine Kultur, in der der*die Gefragte führt“, nennt Yves das.
Das WoKo 1 ist ein Prototyp für das ganze Unternehmen. Bei der weiteren Transformation setzt das Unternehmen auf virale Effekte: „Du kannst dein Umfeld nicht verändern. Aber wenn du dich selbst veränderst, bleibt deinem Umfeld gar nichts anderes übrig, als darauf zu reagieren“, sagt Beate.
Dass die neue Organisationsform kein Selbstzweck ist, sondern wirklich besser zu den Menschen im Born Gesundheitszentrum passt, zeigen die stetig sinkenden Kündigungszahlen: 130 waren es in den Jahren bis 2018. 2020 haben nur 22 Mitarbeiter*innen das Unternehmen verlassen. Zu einem Mitbewerber ist niemand gegangen.
