Die Mitarbeiter*innen der Abteilung Klimamanagement einer mittelgroßen deutschen Stadt empfinden die strenge Hierarchie der öffentlichen Verwaltung als lähmend. Deshalb suchen sie nach einem Weg, trotzdem nach soziokratischen Prinzipien arbeiten zu können.
- Organisation: Verwaltung einer Großstadt
(Öffentliche Verwaltung) - System: Soziokratie
- Mitarbeiter*innenzahl: Abteilung Klimamanagement: 14
Gesamte Verwaltung: ca. 3.500 - Rechtsform: Anstalt des öffentlichen Rechts
Staatliche Einrichtungen wie Behörden, Ämter oder die Polizei sind in der Regel streng hierarchisch organisiert. Beamte und Angestellte im öffentlichen Dienst müssen den Dienstweg einhalten. Das betrifft auch die beiden Teams Klimaschutz und Landschaftsplanung innerhalb der Abteilung Klimamanagement in der Verwaltung einer deutschen Großstadt, um die es in dieser Case Study geht. Doch die hierarchische Organisation lähmt die Abteilung und damit den Klimaschutz in der Stadt. Das wird an zwei Beispielen besonders deutlich:
1. Die Dienstbesprechung: Kein Austausch-, sondern Informationsformat
Montagmorgen um 9 Uhr versammelte der Abteilungsleiter alle Mitarbeiter*innen, um sich umfassend über ihre Tätigkeiten zu informieren – detailliert über den aktuellen Arbeitsstand seiner Mitarbeiter*innen informiert zu sein, ist für ihn wichtig, da auch er ausführlich an seine Vorgesetzten berichten muss. Dazu stellte er ihnen nacheinander folgende Fragen: Was für wichtige Termine hast du diese Woche? Welche Termine hattest du letzte Woche und was war das Ergebnis? Was gibt es Neues aus den Projekten? Hinzu kamen Rückfragen und weitere feste Agendapunkte wie „Organisatorisches“.
„Jede*r wollte zeigen, dass er*sie viel gearbeitet hat, also redeten alle sehr viel“, sagt Camille1, die im Sommer 2019 in der Verwaltung zu arbeiten begann. „Die meisten Dinge, die hier besprochen wurden, betrafen jedoch nur wenige Mitarbeiter*innen. Gemeinsam Probleme zu lösen, dafür war am Ende nie Zeit. Da habe ich mich schon gefragt, warum ich da überhaupt hingehe.“ Die Teilnahme war aber Pflicht.
Warum ist diese Case Study anonymisiert?
2. Hierarchische Entscheidungen
Entscheidungen innerhalb der Abteilung wurden hierarchisch getroffen. Es hat also nicht die kompetenteste Person entschieden, sondern die mit der meisten Macht oder Erfahrung. „Einige hatten das Gefühl, ihre Meinung wird gar nicht gehört“, sagt Camille. Das betraf insbesondere die Jüngeren.
Um Konflikte zu vermeiden, wurden kontroverse Themen sofort abgebügelt. Zum Beispiel empfanden einige Kolleg*innen die Dienstbesprechung als Zumutung. Doch Versuche, sie zu verändern, wurden nicht einmal ins Protokoll aufgenommen. „Es hieß dann einfach: Das haben wir schon immer so gemacht“, sagt Camille.
Darüber hinaus blieben einige Themen gänzlich auf der Strecke – vor allem jene, für die im Prinzip jede*r Mitarbeiter*in verantwortlich ist. Themen, die nebensächlich scheinen, aber Einfluss haben auf das allgemeine Wohlbefinden: Wer kümmert sich darum, dass die Blumen gegossen werden und die Kaffeeküche sauber gehalten wird?
Hol dir eine kostenlose Ausgabe von Neue Narrative
Magazin kostenlos lesenSelbstorganisation in der Abteilung
Als Hannah2im Sommer 2021 in der Abteilung anfing, war sie schnell frustriert davon, dass Projekte wegen der Arbeitsorganisation so langsam vorankamen. Im Gespräch mit ihren Kolleg*innen stellte sie fest, dass es auch anderen so ging. Davon erzählte sie ihrem Abteilungsleiter und schlug vor, gemeinsam eine neue Art der Zusammenarbeit zu entwickeln, die ...
- Mitarbeiter*innen der Abteilung ermöglicht, Probleme gemeinsam zu besprechen
- Klarheit darüber gibt, wer, wo und wie Entscheidungen treffen kann
- und auch innerhalb des hierarchischen Systems funktioniert.
Der Abteilungsleiter stimmte zu, im Team einen ganztägigen Workshop zu machen, den Hannah erarbeitete. Zur Vorbereitung hat sie ihre Kolleg*innen eine wertschätzende Befragung miteinander machen lassen. Ziel war es, Erfahrungen guter Zusammenarbeit und funktionierender Strukturen zusammenzutragen. Auf die Soziokratie kam Hannah, weil sie während ihres Studiums gute Erfahrungen damit gemacht hatte: Die Projektarbeit an der Uni verlief viel lösungsorientierter als die Arbeit in der Verwaltung.
Appreciative Inquiry
So sah die „Appreciative Inquiry“ (wertschätzende Befragung) konkret aus:
Information an die Teilnehmenden
Aufgabe
Zur Vorbereitung unseres gemeinsamen Team-Workshops erhältst du hier einen kleinen Auftrag: Eine wertschätzende Befragung mit jemandem aus deinem Team.
Information
Bei der wertschätzenden Befragung geht es darum, den Fokus auf das Positive an einem Menschen, einer Organisation, einer Struktur oder einer Idee zu legen. Das bedeutet, die Fragen zielen darauf ab, positive Erfahrungen und Erlebnisse zu sammeln, aus denen wir lernen können. Dabei gibt es kein richtig oder falsch, es geht um die individuelle Wahrnehmung und persönliche Geschichten.
Deine Aufgabe ist es, jemanden aus dem Team zu befragen und selbst von dieser Person befragt zu werden. Ihr könnt dies entweder nacheinander machen oder ihr geht in einen Dialog und tauscht euch gemeinsam zu den untenstehenden Fragen aus. Es gibt keine Vorgabe für den Ort oder das Format der Befragung, bitte stimmt euch persönlich ab, und nehmt euch etwas Zeit, um in Ruhe nachdenken und diskutieren zu können. Als befragte Person musst du dich nicht vorbereiten, du kannst einfach das antworten, was dir gerade in den Sinn kommt. Wenn du selbst Fragen stellst, achte darauf, den Fokus auf das Positive zu lenken und frage nach, wenn etwas interessant klingt!
Anbei findet ihr Kärtchen, auf denen ihr spannende Einsichten oder Zitate aus der Befragung der anderen Person festhalten könnt. Es dürfen auch weniger oder mehr Dinge aufgeschrieben werden, als Karten da sind.
Bitte bringt die Kärtchen mit zu unserem Workshop!
Als Hilfestellung zum Austausch hat ein Zufallsgenerator Paare (und eine Dreiergruppe) gebildet, und für dich wurde(n) ... ausgewählt! Du darfst aber mit anderen Kolleg*Innen tauschen, wenn du möchtest.
Wenn du noch Fragen hast, wende dich gern an Hannah.
Viel Spaß!
Fragen, die sich die Mitarbeiter*innen gegenseitig gestellt haben
- Wie bist du zu deiner jetzigen Stelle gekommen und warum?
- Hast du schon einmal (hier oder anderswo) an etwas mitgewirkt, was dich so richtig erfüllt hat? Was war das für eine Situation/Projekt? Waren noch andere Menschen beteiligt? Wie habt ihr zusammengearbeitet?
- Warst du schon einmal richtig stolz auf deine Arbeit? Was hast du dort geschafft? Welche Bedingungen und Menschen haben dich dabei unterstützt?
- Erinnerst du dich an Situationen in deinem Leben, in denen du dich besonders lebendig gefühlt hast? Erzähle von einer solchen Situation.
- Wie würde aus deiner Sicht eine ideale Welt aussehen? Hast du eine Richtung im Kopf? Oder vielleicht eine konkrete Vorstellung?
- Wenn du an diese ideale Welt denkst, wie geht es dir damit? Was würde sich für dich verändern? Was ist deine Aufgabe in dieser Welt?
- Wie sieht dein Alltag aus? Was für eine Rolle spielt deine Organisation/Abteilung in dieser Welt, welche Aufgabe hat sie?
- Wie kann eine große Veränderung aussehen, die auf diese Zukunft hinwirkt? Wie kann eine kleine Veränderung aussehen, die darauf hinwirkt?
- Hast du eine Idee, wie du zu einer positiven Veränderung beitragen kannst? Was kannst Du tun, um 5 Prozent deiner Vorstellung real werden zu lassen?
- Wie kannst du andere darin unterstützen, etwas Positives zu bewirken?
- Möchtest du sonst noch etwas teilen?
Der anschließende Workshop hatte folgenden Ablauf:
- Check-in
Wie bist du da? Was sind deine Erwartungen an den Tag? - Clustern der Ergebnisse der Wertschätzenden Befragung
- Entwicklung eines Purpose auf Basis des Clusters, der zeigen sollte, dass die Kernaufgabe der Abteilung eine andere Form der Zusammenarbeit erfordert
Entwurf: Wir schaffen eine nachhaltige und lebenswerte Welt für die Menschen, Tiere und Pflanzen der nächsten Generationen.3 - Einführung in Soziokratie
Was ist das? Was sind Kreise und welche Funktionen haben doppelte Verbindungen? Inwiefern erlaubt die Soziokratie, weniger hierarchisch und stärker themenbasiert zu arbeiten? - Zeit für Rückfragen
- Konsent-Verfahren: Vorstellung der Funktion eines Konsent-Verfahrens
- Testlauf: Wollen wir das Konsent-Verfahren ausprobieren?
- Konsententscheid: Wollen wir die soziokratische Arbeitsorganisation testen?
Was ist Soziokratie?
Mehr dazuWas bedeutet die Umstrukturierung für den Arbeitsalltag?
Die soziokratische Organisationsform hat sich für die Abteilung bewährt: Nach dem sechswöchigen Experiment hat sie sie beibehalten. Seither sind zwei Jahre vergangen. Inzwischen hat sich die Arbeitsweise der Abteilung in einigen Punkten grundlegend verändert. Einige Mitarbeiter*innen haben sie sogar in andere Kontexte mitgenommen, z.B. in die Vereinsarbeit. Zudem gibt es laut Hannah und Camille ein neues Verantwortungsbewusstsein: Menschen fühlen sich befähigt, Probleme anzusprechen und gemeinsam zu lösen. Meetings sind nun lösungsorientierte Austauschformate.
Wie funktionieren Konsent-Entscheidungen?
Mehr dazuSelbstorganisierte Teambesprechungen
Es gibt jetzt wöchentliche Meetings innerhalb der beiden Teams. Zudem kommt die gesamte Abteilung alle vier Wochen zusammen, um über Dinge zu sprechen, die alle betreffen. Es gibt eine offene Agenda, in die alle Mitarbeiter*innen Punkte eintragen können. Jeder Punkt muss folgende Angaben enthalten:
- Thema: Worum geht es? (Stichwort genügt)
- Zeiteinschätzung: Wie zeitintensiv ist das Thema deiner Meinung nach?
- Zielsetzung: Info holen, Info teilen, Feedback, Entscheidung, Rollenwahl
- Priorität: niedrig, mittel, hoch
Meetings haben folgende Standard-Agenda:
- Zu Beginn: Wer moderiert? Wer protokolliert?
- Check-in: Wie bist du da? Wie geht es dir? (Die Moderation achtet darauf, dass Beiträge unkommentiert bleiben. Lachen oder nicken ist aber in Ordnung)
- Moderation entscheidet auf Basis der Angaben (Priorität, Zeit, Thema), mit welchem Agendapunkt das Team beginnt. Dafür liest die Moderation das Thema vor und nennt auch Zielsetzung und Zeiteinschätzung. Der*die Protokollführer*in stellt einen Timer, um sicherzustellen, dass die veranschlagte Zeit auch eingehalten wird.
- ...
- Check-out: Nachdem alle Punkte prozessiert oder die veranschlagte Zeit abgelaufen ist, beendet die Moderation das Meeting mit einem Check-out. Der wird zur Reflexion genutzt: „Wie hast du unser Treffen heute erlebt? Was würdest du gerne ändern?“
Während anfangs vor allem Hannah die Meetings moderiert hat, übernimmt das inzwischen jede*r mal. Um mit alten Mustern zu brechen, hat die Moderation am Anfang noch rote Karten an diejenigen verteilt, die viel geredet haben. Inzwischen ist das nicht mehr notwendig.
Entscheidungen: Wer ist betroffen? Wer hat einen schwerwiegenden Einwand?
Entscheidungen treffen Mitarbeiter*innen in den Meetings. Geht es zum Beispiel um einen Bebauungsplan, so ist das eine fachliche Entscheidung, die in das zuständige Team für Landschaftsplanung gehört und dort in der Teamsitzung verhandelt wird. Falls es um die Hygiene in der Kaffeeküche geht, ist die gesamte Abteilung gefragt.
„Wenn ich keine kontroversen Standpunkte erwarte, frage ich nur nach Einwänden“, sagt Hannah. Bei schweren Entscheidungen stellt die zuständige Person das Problem vor und schlägt eine Lösung vor. Danach gibt es eine Reaktionsrunde, woraufhin die vorgeschlagene Entscheidung noch angepasst werden kann. Zuletzt werden schwerwiegende Einwände abgefragt. Falls keiner kommt, ist die Entscheidung getroffen. Andernfalls muss die Person ihren Vorschlag anpassen.
Bedenken verhindern – im Unterschied zu Einwänden – einen Konsent nicht. Um sie trotzdem zu berücksichtigen, die Effizienz der Entscheidungen aber nicht zu gefährden, hat die Abteilung eine Regelung eingeführt, nach der nach einer vereinbarten Zeit die Entscheidung und ihre Folgen evaluiert werden. Haben sich die Bedenken als begründet erwiesen? Wenn ja, dann gibt es eine entsprechende Anpassung. Wenn nicht, dann gibt es keinen Anlass zu Änderungen.
„Der große Vorteil ist: Dinge können nicht mehr totgeschwiegen werden. Und jede Meinung zählt gleich viel, ob alt oder jung, ob Mann oder Frau, ob alter Hase oder Neuling, ob Sachbearbeiter*in oder Abteilungsleiter*in“, sagt Camille. Das sei sehr wertvoll.
Steuerkreis: Bindeglied zur Gesamtorganisation
Das Steuerkreis-Meeting mit dem Abteilungsleiter, den Sachgebietsleiter*innen und den Delegierten der Teams findet wöchentlich statt und sichert die Anschlussfähigkeit an die Gesamtorganisation. „Für mich als Sachgebietsleitung ist es super, dass die Delegierten dabei sind. Sie können das Team in einigen Fällen besser vertreten, weil sie näher dran sind“, sagt Camille.
Im Unterschied zu den anderen Meetings hat der Steuerkreis zwei feste Agendapunkte: Beim „Bericht aus der Hierarchie“ berichtet der Abteilungsleiter von Terminen, die für die Teams relevant sein könnten, und beim „Bericht aus den Teambesprechungen“ berichten die Delegierten und Sachgebietsleitungen dem Abteilungsleiter. Der Steuerkreis stellt so sicher, dass die Teams selbständig Entscheidungen treffen können, der Vorgesetzte aber trotzdem über alle Vorgänge Bescheid weiß – und andere Gremien innerhalb der Hierarchie darüber informieren kann.
„Das Vertrauen geht hier inzwischen so weit, dass der Abteilungsleiter einfach unterschreibt, was formal unterschrieben werden muss, ohne es sich genauer anzugucken“, sagt Hannah.
Take-aways
- Die hierarchische Organisation der Verwaltung führt dazu, dass Meetings langwierig sind und den Mitarbeiter*innen kaum nützen. Zudem werden Entscheidungen nicht von denen getroffen, die sich am besten auskennen, sondern von denen mit der meisten Macht.
- Eine Abteilung innerhalb der Verwaltung hat sich umorganisiert. Sie arbeitet nun nach soziokratischen Prinzipien, die sie auf Basis einer wertschätzenden Befragung für sich angepasst hat.
- Die Teambesprechungen sind seitdem effektive Austauschformate, Entscheidungen werden von und mit denen getroffen, die sie betreffen, und der Steuerkreis stellt sicher, dass das innerhalb der hierarchischen Gesamtorganisation funktioniert.
Zum Weiterdenken
- Inzwischen schwappt die Arbeitsweise auf andere Abteilungen über. Was denkst du: Sind Soziokratie und das Prinzip der öffentlichen Verwaltung auch in der gesamten Organisation vereinbar?
- Einige Vorgesetzte bleiben skeptisch. Für sie ist Selbstorganisation Kritik an ihrer Führungskompetenz. Was würdest du entgegnen?