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Guide

Wie du deinen Perfektionismus überwindest

Perfektionismus gilt in vielen Organisationen als wünschenswerte Eigenschaft. Dabei kann übertriebener Perfektionismus zu Selbstabwertung und organisationalem Stillstand führen. Wie gelingt es, den eigenen Perfektionismus zu überwinden?

Wer in einem Bewerbungsgespräch nach den eigenen Schwächen gefragt wird, soll mit „Perfektionismus“ antworten, hieß es früher in Karriereratgebern. Mittlerweile wird davon eher abgeraten, denn die Taktik, eine Schwäche in eine vermeintliche Stärke umzuetikettieren, ist überholt.

Was bleibt, ist die Ambivalenz, die wir mit Perfektionismus verbinden: In unserer Leistungsgesellschaft begleiten uns von Beginn an Maximen zur Selbstoptimierung wie „Gib dein Bestes!“ oder „Arbeite an dir!“. Dabei ist Perfektionismus nicht prinzipiell etwas Schlechtes – an der richtigen Stelle kann er einen positiven Effekt haben und uns motivieren, Dinge gewissenhaft voranzubringen.

Das Problem ist, dass Perfektionist*innen ständig nach Perfektion streben, auch wenn es gar nicht nötig wäre. Auf lange Sicht kann das blockieren, unzufrieden machen und zu Burn-out führen, wie eine Meta-Studie der Universität Bath zeigte.

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Wir bewundern die überengagierten Tüftler*innen, die freiwillig bis tief in die Nacht arbeiten, um das perfekte Meisterwerk zu schaffen. Aber statt den Perfektionismus zu verklären, sollten wir seine negativen Seiten und Ursachen klar benennen. Welche sind das? Wie können Menschen mit ihnen umgehen? Und wie können Organisationen sie dabei unterstützen?

Perfektionismus kann auch blockieren.

Die zwei Arten von Perfektionismus

Laut dem US-amerikanischen Psychologen Don E. Hamachek lässt sich zwischen funktionalem und dysfunktionalem Perfektionismus unterscheiden. Funktionale Perfektionist*innen arbeiten sehr gewissenhaft an einem Ergebnis, verurteilen sich aber nicht, wenn auf dem Weg dahin Fehler passieren.

„Dysfunktionaler Perfektionismus ist dagegen das übertriebene – und unerfüllbare – Streben nach Fehlerfreiheit“, sagt die Psychologin Benthe Untiedt von SHITSHOW – Agentur für psychische Gesundheit. „Menschen, die davon betroffen sind, werten sich bereits bei kleinen Misserfolgen ab. Der Selbstwert dieser Personen ist sehr stark von der subjektiven Leistung abhängig.“

Die Erwartungen an die eigenen Ergebnisse sind praktisch unerfüllbar. Das gilt besonders bei unsicheren Ausgangsbedingungen, etwa in einem neuen Job. Anstatt sich selbst Zeit zu geben, in die neuen Aufgaben hineinzuwachsen, investieren dysfunktionale Perfektionist*innen unverhältnismäßig viel Zeit und Energie, um von Anfang an alles „richtig“ zu machen: die perfekte Einarbeitung, perfekte Beziehungen zu Kolleg*innen aufbauen, perfekte erste Projekte abschließen.

Persönlicher und organisationaler Perfektionismus

Auf der individuellen Ebene stellt sich Perfektionist*innen zunächst die Frage: Warum bin ich überhaupt perfektionistisch – was bringt es mir? Die Autorin Natalie Lue schreibt dazu: „Perfektionismus ist ein Panzer, der uns vor Verletzlichkeit schützt und uns glauben lässt, wir hätten die Kontrolle. Wenn wir uns einer neuen Herausforderung stellen müssen, [...] haben wir Angst vor der Lücke zwischen dem, wo wir jetzt sind, und dem, wo wir sein wollen.“ Perfektionismus ist also eine Form der Emotionsregulation.

Bleibt die Frage nach den Ursachen, also woher unser Perfektionismus kommt. In vielen Fällen entsteht er schon in der Kindheit und wird durch die Prägung von wichtigen Bezugspersonen ausgelöst, beispielsweise durch hohen Erwartungsdruck von den Eltern. Daneben können auch soziale Einflüsse (z.B. das Notensystem in der Schule, Vorbilder in den sozialen Medien), gesellschaftliche Werte und individuelle Veranlagung eine Rolle spielen.

Eine Person, die sich hiinter eine großen Kugel versteckt.

Falls du dich jetzt fragst, ob du von Perfektionismus betroffen bist, kannst du mit Unterstützung von einer*einem Coach*in die folgenden Fragen durchgehen. Sie helfen dir, deine individuellen Glaubenssätze zu erkennen, zu reflektieren und zu überarbeiten:

  • Welche Glaubenssätze habe ich in Bezug auf Perfektionismus? (z.B. „Ich bin nur wertvoll, wenn ich perfekte Ergebnisse erziele.“, „Wenn ich Fehler mache, halten mich meine Kolleg*innen für inkompetent.“ oder „Ich muss abliefern, sonst werde ich nicht akzeptiert.“)
  • Inwiefern beeinflussen mich diese Glaubenssätze negativ oder positiv?
  • Welche Glaubenssätze möchte ich beibehalten? Warum?
  • Welche Glaubenssätze möchte ich ändern? Warum?
  • Wie könnte eine überarbeitete Version dieser Glaubenssätze lauten? (z.B. „Ich bin nur wertvoll, wenn ich perfekte Ergebnisse erziele.“ → „Ich wertschätze mich in jeder Situation, unabhängig von meiner Leistung.“)
  • Wie fühle ich mich, wenn ich die überarbeitete Version meiner Glaubenssätze laut ausspreche?

Auf der persönlichen Ebene ist also klar, was zu tun ist: Perfektionist*innen sollten sich mit ihrem Drang nach Fehlerfreiheit auseinandersetzen. Aber wie verhält es sich auf der organisationalen Ebene? Leider fehlt es in Unternehmen häufig an sinnvollen Praktiken und Prozessen, um dysfunktionalem Perfektionismus vorzubeugen.

Statt einer vertrauensvollen Unternehmenskultur, in der Fragen und Fehler erlaubt sind, herrschen unrealistische Zielvorstellungen, Leistungsdruck und Fehlerintoleranz. Der ideale Nährboden für strukturellen Perfektionismus: Die Mitarbeiter*innen trauen sich nicht zuzugeben, wenn sie Hilfe brauchen oder einen Fehler gemacht haben. Stattdessen konzentrieren sie sich darauf, keine Risiken einzugehen und nichts falsch zu machen.

Am Ende ist das ein Verlust für die ganze Organisation, sagt Benthe Untiedt: „Wenn mein Arbeitsumfeld impliziert, dass ich keine Fehler machen darf, blockiert das Lern- und Entwicklungsprozesse.“ Perfektionismus kann neben individuellen also auch strukturelle Ursachen haben. Daher lohnt es sich, bei der Organisationsstruktur anzusetzen.

Checkliste

Diese Checkliste kannst du allein oder im Team nutzen. Die erste Frage beschäftigt sich jeweils mit individuellen Glaubenssätzen, die zweite Frage mit organisationalen Antreibern, die Perfektionismus begünstigen. Wenn ihr die Mehrheit der Fragen bejaht, solltet ihr etwas verändern.

  • Werte ich mich selbst ab, wenn ich einen Fehler gemacht habe? Fühle ich mich dann als Versager*in? Werten Kolleg*innen oder Lead-Rollen Menschen ab, wenn sie etwas falsch machen? Vermitteln sie ihnen, dass sie ihren Ansprüchen nicht gerecht werden?
  • Kann ich erst mit der Arbeit aufhören, wenn ich das Gefühl habe, das perfekte Ergebnis erreicht zu haben? Sind unerfüllbare Erwartungen in unserer Organisation die Regel?
  • Bin ich nie hundertprozentig zufrieden mit dem Ergebnis? Empfinde ich selten wirkliches Glück oder Zufriedenheit? Sprechen wir nie oder selten aufrichtige Wertschätzung für die Arbeit unserer Kolleg*innen aus?
  • Versuche ich immer 120 Prozent zu geben? Gibt es die unausgesprochene Erwartung, dass alle im Team mehr Energie und Zeit geben, als sie müssten?
  • Bin ich überdurchschnittlich nervös, wenn ich mich nur gut und nicht sehr gut auf eine Sache vorbereiten kann? Müssen Teammitglieder mit Ablehnung oder unverhältnismäßigen Konsequenzen rechnen, wenn ihre Vorbereitung nur durchschnittlich ist?
  • Vergleiche ich mich regelmäßig mit einer idealisierten Version von mir selbst oder meinen Ergebnissen? („Ich hätte noch X und Y machen können.“, „Ich könnte schon hier oder dort sein.“) Vermitteln wir uns gegenseitig, dass der Status quo nicht ausreicht und wir uns weiterentwickeln müssen?
  • Gehe ich regelmäßig über meine Grenzen hinaus, um ein noch besseres Ergebnis zu erzielen? Fehlen in der Organisation klar kommunizierte Grenzen, um das eigene Wohlbefinden zu schützen?

Fehlerkultur statt Perfektionskult

In allen Unternehmen, egal ob sie klassisch hierarchisch oder selbstorganisiert arbeiten, ist es wichtig, was Führungskräfte und Kolleg*innen, die schon länger in der Organisation sind, vorleben: Wie ist ihr Umgang mit Fehlern? Werden Fehler in Retrospektiven aufgearbeitet? Werden Mitarbeiter*innen, die Fehler begehen, abgewertet oder sogar vorgeführt? „Wir sollten Fehler als Selbstverständlichkeit anerkennen und besprechbar machen“, sagt Benthe Untiedt. Für Menschen, die zum Perfektionismus neigen, ist das besonders wichtig.

Prototyping und Pareto: Wege aus dem Perfektionismus

Ein Weg, um die Fehlertoleranz von Perfektionist*innen zu erhöhen, ist Prototyping. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Prototyp nicht von Anfang an perfekt ist. Das kann er nicht – und soll er auch gar nicht. Perfektionistisch gepolte Menschen lernen beim Arbeiten mit Prototypen, wie sinnvoll es sein kann, ein nicht-perfektes Ergebnis anzustreben und erste Entwürfe iterativ weiterzuentwickeln, also auf Basis der Erkenntnisse, die sie auf dem Weg erhalten. Dafür müssen sie zwangsläufig aushalten, zeitweise auf einer unfertigen Stelle stehenzubleiben.

Wenn Teams regelmäßig mit agilen Prototypen arbeiten, werden diese Lernprozesse strukturell verankert. Bei Neue Narrative haben wir dies beispielsweise in unseren Definitions of Dones implementiert, wo wir Zielzustände beschreiben. Für unsere Magazin-Artikel lautet die Definition of Done: „Die 80-Prozent-Version des Textes ist geschrieben und im Lektorat.“ Das vermittelt den Autor*innen, dass ihre Texte nicht bereits vor dem Lektorat perfekt sein müssen.

Definition of Done

zum New Work Glossar

Das von dem italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto entwickelte Pareto-Prinzip basiert auf einer ganz ähnlichen Annahme. Es besagt, dass in vielen Fällen 20 Prozent Zeiteinsatz zu 80 Prozent des Ergebnisses führen. Um die letzten 20 Prozent des Ergebnisses zu erreichen, wären wiederum 80 Prozent Zeiteinsatz erforderlich. Dieses Denkmodell hilft dabei, Prioritäten klüger zu setzen. Denn bei einem deutlich geringeren Zeit- und Energieeinsatz entsteht trotzdem ein gutes Ergebnis. Natürlich sollten wir das fallweise entscheiden – in manchen Kontexten kann es durchaus sinnvoll sein, mehr Zeit zu investieren. Aber an einer schnelllebigen Powerpoint, die nur ein Mal zum Einsatz kommt, müssen wir nicht eine Woche arbeiten. „Perfektionist*innen können durch das Pareto-Prinzip ein realistisches Gefühl dafür entwickeln, in welchen Situationen es okay ist, in die Fehlerhaftigkeit zu gehen. Sie werden entgegen ihrer Erwartung bemerken, dass dadurch kein Schaden entsteht“, sagt Benthe Untiedt. Im Gegenteil: Die 80-20-Methode spart Zeit und Energie, und in den meisten Fällen werden Außenstehende keinen Unterschied bemerken.

Eine Figur, die sich entspannt an einen Steinblock lehnt.

Wenn du das Pareto-Prinzip ausprobieren möchtest, kannst du dir mit folgenden Fragen Klarheit verschaffen:

  • Welche Aufgabe möchte ich angehen?
  • Welches Ergebnis wünsche ich mir? Warum?
  • Wie viel Zeit und Energie bräuchte ich realistischerweise für dieses Ergebnis?
  • Wie sieht eine 80-Prozent-Version von diesem Ergebnis aus?
  • Was brauche ich, um diese Version zu erreichen?
  • Was könnte ich mit der gewonnenen Zeit tun?
  • Wie fühlt sich das an?

Lasst uns ehrlich über Schwächen reden!

Heutzutage würde wahrscheinlich kaum noch jemand in einem Bewerbungsgespräch Perfektionismus als angebliche Schwäche nennen. Nicht nur, weil es überholt ist und unglaubwürdig wirkt, sondern auch, weil wir uns in der Neuen Arbeitswelt nicht mehr als perfekt verkaufen müssen.

Wenn wir Perfektionismus überwinden wollen – unseren persönlichen und den in unserer Organisation –, müssen wir ehrlich über Schwächen und Stärken reden und sie regelmäßig reflektieren. Das kann sich dann auch in Teamzusammensetzungen widerspiegeln, wenn Menschen, die eher zu 80-Prozent-Versionen neigen, schnelle, unperfekte Ergebnisse liefern, und die Perfektionist*innen ihre Scharfsinnigkeit und Energie in die letzten 20 Prozent stecken.

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