Wir lügen aus Höflichkeit und halten die Wahrheit zurück, um andere nicht zu verletzen. Erst dadurch werden viele Konflikte zum Problem. Ein Plädoyer für mehr Ehrlichkeit.
Beichte vorweg: Ich habe einmal einen Job angenommen, der mir eigentlich gar nicht gefiel. Er klang spannend, das Team war angenehm, aber schon beim Probearbeiten fiel mir auf: Das ist nicht wirklich mein Ding. Trotzdem habe ich zugesagt. Die Bedingungen klangen so gut, dass ich meine Zweifel einfach heruntergeschluckt habe. Das Ergebnis, natürlich: Frust. Es kostete mich zunehmend mehr Kraft, mich zu motivieren, und gelegentliche kleine Ärgernisse, die ich sonst locker verarbeitet hätte, zehrten bald an meinem sonst großen Enthusiasmus. Am Ende waren mein Chef und ich voneinander genervt und ich beschloss, zu kündigen.
Eine gute Entscheidung, wenn auch zu spät. Im Nachhinein ist mir klar: Wenn ich früher meine Zweifel bei der Arbeit geäußert hätte, hätten wir im Team entweder den Aufgabenbereich besser an meine Wünsche und Fähigkeiten anpassen können – oder ich hätte den Job gar nicht erst angetreten. Wahrscheinlich wären in beiden Fällen allen Beteiligten Stress und Konflikte erspart geblieben.
Zugegeben, ein Arbeitsanfängerfehler, aber ein lehrreicher. Ich habe daraus mitgenommen, dass es oft produktiver ist, Eigeninteressen klar zu äußern, anstatt sie aus Höflichkeit zu verdrängen. Trotzdem tun die meisten Menschen das ganz habituell. Wie oft denken wir, dass wir anderen diesen oder jenen Wunsch eigentlich gar nicht mitteilen können? Steckt hinter vielen Konflikten auf der Arbeit möglicherweise unausgesprochener Ärger, Wut und Enttäuschung? Und wie können wir damit umgehen? Sollten wir immer allen sagen, was wir denken? Kann das funktionieren?
Nie wieder schlechte Meetings!
Abo + Geschenk holenDie Unwahrheit als Konfliktquelle
Das zumindest behauptet der amerikanische Coach und Psychotherapeut Brad Blanton. Bekannt geworden durch sein Buch Radical Honesty, postuliert er im Wesentlichen eine zentrale, vielleicht wirklich radikale Botschaft: Für ihn ist der Mangel an Ehrlichkeit die Hauptursache der meisten persönlichen Konflikte, ja sogar der meisten psychischen Probleme insgesamt. Die Theorie in Kurzform: Lügen macht unglücklich, und zwar die Lügenden genauso wie die Belogenen.
Dafür nennt er zwei Gründe: Zum einen schafft die Unwahrheit Distanz. Egal, ob wir Unangenehmes aus Nettigkeit beiseiteschieben, Konfliktthemen und Tabus vermeiden oder einander handfest anlügen – danach müssen wir bei unserer Parallelversion der Realität bleiben und unsere weiteren Äußerungen daran anpassen.
Das ist anstrengend: Es verspielt die Möglichkeit, sich unverstellt und authentisch zu äußern. Außerdem merkt die belogene Person natürlich oft, dass irgendetwas nicht stimmt. Irgendwann steht dann so viel Ungesagtes, Unverarbeitetes im Raum, dass die Beziehung distanziert und unpersönlich wird. Zum anderen arbeitet nicht geäußerte Frustration in der Psyche weiter und verursacht Stress. Waren wir nicht alle schon einmal wütend und haben nach einem Streit stundenlang einen Monolog voller pointierter Sticheleien mit uns herumgetragen, die wir der anderen Person eigentlich gerne gesagt hätten? Das belastet – und viele Konflikte eskalieren, weil sich tausend ungelöste Ärgernisse ansammeln und sich irgendwann durch dramatische Eruptionen entladen.
Nur Ehrlichkeit schafft Vertrauen
Wenn Unwahrheit das Problem ist, ist für Blanton die Lösung offensichtlich: Die Wahrheit zu sagen über das, was wir denken und fühlen. Und zwar kompromisslos: Immer allen alles sagen, Frust verbalisieren, Urteile teilen, die Angst überwinden, andere zu verletzen. Viele Konflikte wären nach einer halben Stunde gegessen, wenn alle Karten auf dem Tisch lägen. Still schwelende Streitigkeiten hingegen können langfristig die Atmosphäre vergiften. Jemandem die Meinung zu geigen, oder sie gegeigt zu bekommen, kann daher befreiend sein.
Dafür bietet Blanton in Nordamerika auch Seminare an, in denen die Teilnehmenden miteinander unverblümt sein sollen, und er hat zahlreiche Schüler*innen um sich geschart, die in Europa dasselbe tun. Eine von ihnen ist Tuulia Syvänen, die das Konzept nicht nur im Privatleben, sondern auch beruflich erprobt hat. Von ihrem früheren Job im Non-Profit-Sektor berichtet sie: „Ich war oft die Einzige, die meinem Chef widersprach. Ich war natürlich besorgt, dass das meiner Möglichkeit, Projekte durchzuführen schaden würde. Aber ich habe weitergemacht und war angenehm überrascht, dass mein Einsatz den gegenteiligen Effekt hatte: Mein Chef meinte, dass ich die Einzige sei, der er voll vertraue, ihm nicht gefallen zu wollen und keine Schwierigkeiten unter den Teppich zu kehren.“ Was können wir daraus ziehen? Meistens haben wir Angst, andere ehrlich zu kritisieren – aber tatsächlich belohnen die meisten Menschen Offenheit mit Vertrauen.
Wahrheit ohne Moral
Das ist an sich nichts Neues. Dass Lügen das Vertrauen untergräbt, wussten schon die alten Philosophen. Augustinus argumentierte vor 1.600 Jahren, dass Lügen den Zweck der Sprache untergräbt: Schließlich soll Sprache Informationen weitergeben, und das ist nur möglich, wenn man der Rede Glauben schenken kann. Lügen sind daher sogar widersprüchlich: Zum Funktionieren brauchen sie nämlich genau das Vertrauen in den Sprechakt, das sie zugleich untergraben. Wenn alle Menschen ständig lügen würden, glaubte man keinen Satz mehr – und weder Wahrheit noch Lüge hätte irgendeine Bedeutung.
Die Wahrheit zu sagen ist der klassischen Philosophie jedoch vor allem ein moralisches Anliegen. Das macht Kant sehr deutlich: Selten um strenge Prinzipien verlegen, schreibt er 1797 in seinem Aufsatz Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen, dass man sogar einem Axtmörder den Aufenthaltsort eines Freundes verraten müsse. Lügen schade nämlich der „Menschheit überhaupt“ – daher sei die Wahrheit eben ein „sittlicher Grundsatz“.
Davon ist Blantons Ansatz jedoch weit entfernt. Blanton gibt offen zu, bei Steuerbehörden und beim Poker zu lügen, und empfiehlt, die kompromisslose Wahrheit nur in zwischenmenschlichen Beziehungen auszusprechen – aus purem Eigennutz. Nicht, weil es moralisch geboten ist, die Wahrheit zu sagen, sondern weil es psychisch belastend ist, sich immer wieder zu verstellen. Dauerhaft die eigenen Wünsche, Frustrationen, Emotionen herunterzuschlucken, sich auf der Arbeit anders zu geben als man ist: Das kann einfach nicht gesund sein. Etwas mehr Wahrhaftigkeit liegt da in unserem reinen Eigeninteresse, so Blanton.
Bin ich jemand anderes, wenn ich arbeite?
Der Coach und Seminarleiter Jakob Eichhorn, ein weiterer Schüler Blantons, erklärt im Interview, dass wir uns auf der Arbeit oft noch mehr inszenieren als im Privatleben. Wir versuchen ganz anders zu sein, als wir sonst sind, obwohl wir eigentlich genau die gleichen Menschen bleiben. „Jeden Tag ein Bild von sich selbst zu verkaufen, erzeugt Stress. Wir müssen zwei Menschen gleichzeitig sein und die äußere Show dann noch mit Lächeln und lockeren Sprüchen untermauern. Innerlich herrschen Versagensängste, unterdrückte Wut, Einsamkeit.“
Dadurch leiden die Beziehungen bei der Arbeit und es wird schwierig, direkt miteinander zu kommunizieren. Die Lösung bleibt dieselbe: Irritationen bei anderen ansprechen, und für sich selbst regelmäßig Feedback einholen. „Wenn du mit deinem Kopfkino beschäftigt bist, wird deine Arbeit höchstwahrscheinlich darunter leiden. du gibst deinem inneren Erleben die Chance sich zu verändern, wenn du es laut aussprichst. Dabei kommst du wieder mit der Realität in Kontakt und steigst aus deinem Gedankenkarussell aus“, sagt Jakob Eichhorn.
Die Angst vor der Verletzung
Trotzdem – kann die schonungslose, unverblümte Wahrheit über Meinungen und Gefühle nicht auch überfordernd sein? Manchmal kann die taktlos ausgesprochene Wahrheit schließlich auch verletzen, und nicht immer sind wir darauf vorbereitet, mit ihr umzugehen. Denn nicht alle Urteile, die wir gefällt haben und mit uns herumtragen, sind konstruktive Kritik, die anderen weiterhilft, sondern oft sind sie kleinlich und aus schlechter Laune entstanden. Wenn wir radikal ehrlich sind, besteht dann nicht die Gefahr, den eigenen Frust an anderen abzureagieren?
Davor warnt auch Tuulia: „Für mich ist die Motivation wesentlich. Warum sage ich anderen unangenehme Dinge? Nicht um Dampf abzulassen, sondern um die Nähe mit ihnen herzustellen, die dadurch entsteht, dass keine Geheimnisse zwischen uns stehen.“ Ehrlichkeit sollte kein Stressventil sein, sondern ein Mittel, um konstruktiv Differenzen abzubauen – mit dieser Einstellung verletzt sie auch weniger.
Dafür hilft es, auch bei aller Offenheit ein paar Regeln einzuhalten. Zum Beispiel, einander beim Streiten nicht nur Urteile an den Kopf zu werfen, sondern spezifisch zu benennen, was einen konkret am Verhalten der anderen Person irritiert. Tuulia: „Wenn beide Parteien die Fakten von ihren Interpretationen trennen, hilft das sehr, über Wut hinwegzukommen. Anstatt andere zu beschimpfen, können wir zum Beispiel sagen: ‚Ich hatte den Eindruck, dass du in dem Meeting meine Idee nicht mochtest, und ich habe mich wütend gefühlt. Ich stelle mir vor, dass du denkst, dass ich keine guten Vorschläge mache und nichts zum Projekt beitrage. Ist das wahr?‘“ Ebenso ist es wichtig, der anderen Person danach die Chance zu geben, ihrerseits zu reagieren und ihren Ärger zu äußern – nur so lässt sich ein Konflikt am Ende lösen.
Und manchmal ist eben nicht all unsere Kritik sachlich und nicht aller Ärger gerechtfertigt. Selbst dann, argumentiert Blanton, ist es sinnvoll, die andere Person damit zu konfrontieren. Nur dann kann sie sich schließlich verteidigen und bekommt die Gelegenheit, vielleicht selbst verärgert zu sein und uns ihren Unmut mitzuteilen. Vielleicht ist deswegen Ehrlichkeit oft so schwierig: Weil sie zeigt, dass wir selber nicht immer so großzügig und souverän sind, wie wir eigentlich gerne wären, sondern viele unserer Urteile bei Tageslicht gesehen auch ein bisschen lächerlich sind.
Ich bin daher auf jeden Fall froh, dass ich damals bei meinem Job zumindest am Ende ehrlich war. Der meiste Frust, den ich dort verspürte, hatte nichts mit meinem Chef und dem Team zu tun, sondern mit meiner Fehlentscheidung, den Job anzunehmen. Das wurde schnell offensichtlich, als ich offen ansprach, dass die Arbeit nicht zu mir passe und mir eine andere Tätigkeit vorschwebe – und sobald ich das zugegeben und gekündigt hatte, wurde die Stimmung schlagartig besser. Das würde ich wieder tun. Und beim nächsten Mal werde ich hoffentlich direkt ehrlicher über meine eigenen Bedürfnissen sein. Vielleicht wäre ich nicht der Einzige, der*die mit mehr Ehrlichkeit kündigen würde.
Anleitung für mehr Ehrlichkeit
Wütend? Frustriert? Ist der Bürogoldfisch falsch gefüttert worden? Dann nützt alles nichts – der Ärger muss ans Tageslicht. Am besten so:
- Redet miteinander, am besten persönlich und unter vier Augen. Nichts wird besser dadurch, dass Frust verschleppt wird – die andere Person hat keine Chance, ihr Verhalten zu ändern, wenn du mit der Faust in der Tasche so tust als sei alles okay. Da ist es oft netter, direkt zu sein, auch wenn es schmerzhaft sein kann.
- Sei spezifisch. „Mich ärgert, dass wegen dir der Goldfisch verunglückt ist“, ist viel hilfreicher als: „Mich nervt, dass du immer so schludrig bist.“ Vermeide die Wertung und bleib bei den Tatsachen – das macht es einfacher, mit der Kritik produktiv umzugehen.
- Bleib in der Gegenwart. „Ich war gestern wütend auf Dein Versäumnis“, ist keine wirkliche Gefühlsäußerung – es sei denn, du bist immer noch verärgert. Ebensowenig wird eine vorformulierte, einstudierte Kritik dabei helfen, die eigentliche Emotionen zu verarbeiten. Äußere Gefühle so, wie sie während der Interaktion entstehen und sich in deiner Körpersprache ausdrücken – so können sie sich am besten lösen und wahrgenommen werden.
- Bleib dran. Wenn du Deinen Unmut geäußert hast, bleib bei der anderen Person und gib ihr die Gelegenheit, sich ebenfalls zu äußern. Wahrscheinlich hat deine Wut sie wütend gemacht, und auch diese Wut muss wiederum verarbeitet werden. Dieser Prozess kann dauern – aber irgendwann sind alle Gründe, verärgert zu sein, gelöst.
- Ende mit Wertschätzung. Wenn du deinen Ärger vollständig mitgeteilt hast, wird dir wahrscheinlich auch etwas Freundliches über die andere Person einfallen. Wenn dir das nicht gelingt, und du immer noch angespannt bist, dann gibt es wahrscheinlich noch einen wunden Punkt, den ihr bisher ausgelassen habt.