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Leistung

Leistung ist Definitionssache

Eines der wirkmächtigsten Narrative unserer Zeit lautet: „Jede*r kann es mit der eigenen Leistung schaffen.“ Aber stimmt das wirklich? Und was ist Leistung überhaupt?

Als Peter Tschaikowsky 1878 zwei berühmte Musiker1 seiner Zeit darum bat, sein Violinkonzert uraufzuführen, lehnten beide ab: Das Stück sei zu schwierig zu spielen.2 Heute ist das gleiche Stück für professionelle Violinist*innen Teil des Standardrepertoires.

Bei den ersten modernen olympischen Spielen 1896 gewann der Grieche Spyridon Louis den Marathon mit einer Laufzeit von zwei Stunden und 58 Minuten. Allein beim Berlinmarathon 2016 haben 1.659 Menschen diese Zeit geknackt.3 Der offizielle Weltrekordhalter ist inzwischen der Kenianer Eliud Kipchoge, der nur zwei Dritteln der Zeit brauchte.

In vielen Bereichen des Alltags- und Gesellschaftslebens sind unsere Vorstellungen von außergewöhnlichen Leistungen heute vollkommen anders als vor nur etwa 150 Jahren. Dabei verschiebt sich die Norm scheinbar ständig – es geht immer höher, schneller, weiter, schlauer, kreativer.

Wir verstehen uns als Leistungsgesellschaft, deshalb scheint dieses Streben nach stetiger Steigerung nicht verwunderlich. Das Versprechen: Personen, die besonders gute individuelle ‚Leistungen‘ erbringen, werden mit einer führenden Position innerhalb der Gesellschaft belohnt. So die Definition der Leistungsgesellschaft, auch Meritokratie genannt.

Das Versprechen der Leistungsgesellschaft: Personen, die besonders gute individuelle ‚Leistungen‘ erbringen, werden mit einer führenden Position belohnt.

Eine Erzählung, die für alle etwas bietet

Diese Erzählung der Leistungsgesellschaft ist eines der wirkmächtigsten Narrative der Gegenwart. Und das nicht ohne Grund, denn es funktioniert für fast alle:

Wer bereits oben ist, will daran glauben, dass er*sie durch eigene Leistung dort hingekommen ist. Deswegen stützen vor allem Eliten oft das Leistungsparadigma. Wer in der Gesellschaft unten ist, möchte daran glauben, dass auch er*sie es durch eigene Arbeit und individuelle Leistung schaffen kann, aufzusteigen.

Diese Zusammenfassung ist verknappt – denn formell hat tatsächlich jede*r die Freiheit, aufzusteigen bzw. das Risiko, abzusteigen. Sie zeigt aber gut, was das Narrativ für die meisten Menschen so attraktiv macht und warum es so schwer ist, dagegenzuhalten. Für die meisten Menschen wird das Aufstiegsversprechen nie wahr. Für sie führen die Erzählungen über all die Tellerwäscher, kleinen Aktienhändler, Zimmermädchen oder Slumkinder, die den Aufstieg geschafft haben, dazu, dass sie ihr Schicksal in Erwartung einer besseren Zukunft ertragen. Die Leistungsgesellschaft gibt es nicht.

Für die meisten Menschen wird das Aufstiegsversprechen nie wahr. Das liegt daran, dass es es die vermeintliche Leistungsgesellschaft nicht gibt.

Leistung ist nicht eindeutig messbar

Wir reden so viel über Leistung, dass man annehmen könnte, dass alle ganz genau wissen, was Leistung ist. Die physikalische Definition ist eindeutig: Leistung = Arbeit ÷ Zeit.4

Diese Definition lässt sich jedoch kaum auf menschliche Arbeit übertragen: Bei einem*einer Maurer*in kann man vermeintlich klar erkennen, dass die Gesamtleistung zunimmt, weil die Wand immer höher wird. Wenn das Ziel aber ist, eine schöne oder stabile Wand zu bauen, stößt die einfache Formel (Arbeit ÷ Zeit) schon an ihre Grenzen.

Bei anderen Jobs, deren Output sich vermeintlich einfach messen lässt, ist das ebenfalls nicht immer sinnvoll. Eine*n E-Mail-Marketing Expert*in daran zu messen, wie viele Mails er oder sie heute verschickt hat, führt dazu, dass die Zahl der verschickten Mails hoch ist, aber vielleicht auch die Rate der Abmeldungen. Aber selbst wenn wir in eine komplizierte Rechnung Versendungen, Öffnungsraten und Klicks auf Buttons mit einbeziehen, bleibt unklar: War eine kreative Idee, die analytische Berechnung, Durchhaltevermögen, die Vorarbeit einer*eines Kolleg*in, oder Glück und Zufall für den Erfolg oder Misserfolg verantwortlich?

Noch komplexer wird die Leistungsfrage bei Jobs, die darin bestehen, die Qualität zu verbessern – wenn die Lektorin Teile dieses Textes zum Schluss umstellt und Worte austauscht, dann wird er besser als davor. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen In- und Output: Während durchaus viel Zeit investiert wird (Input), ist der Text am Ende kaum länger, vielleicht sogar deutlich kürzer als davor (Output).

Geht es bei Leistung also um Quantität (wie die Physik nahelegt) oder um Qualität? Geht es um In- oder um Output? Die Standards, die wir zur Messung von Leistung annehmen, folgen keinen Naturgesetzen, sondern werden von Menschen gemacht. Leistung ist nicht objektiv.

Geht es bei Leistung um Quantität oder um Qualität? Geht es um In- oder um Output? Die Standards, die wir zur Messung von Leistung annehmen, folgen keinen Naturgesetzen, sondern werden von Menschen gemacht. Leistung ist nicht objektiv.

Die (Leistungs)gesellschaft ist nicht gerecht

Im Bildungssystem zeigt sich gut, dass die vermeintliche Leistungsgesellschaft tatsächlich ziemlich ungerecht ist. 2018 kam heraus, dass wohlhabende US-Amerikanier*innen über Jahre hinweg ihren Kindern den Zugang zu hochkarätigen Colleges wie Yale und der University of California gekauft hatten, indem sie Testergebnisse fälschen ließen und Sporttrainer bestachen.5

Mit Geld kann man sich offensichtlich auf illegalem Weg über das Leistungssystem hinwegsetzen. Aber auch davor hat es großen Einfluss darauf, wer welche Leistungen überhaupt erbringen kann. In den USA entscheidet eigentlich der SAT, ein Studienfähigkeits- und Leistungstest, über die Universitätszulassung. Eine Studie zeigt: Das Einkommen der Eltern hat Einfluss auf die Testergebnisse. Wohlhabende Schüler*innen können sich auf Vorbereitungskurse, private Zulassungsberater*innen, Tanz- und Musikstunden, Trainingseinheiten in Elitesportarten und vieles mehr in Anspruch nehmen. Mehr noch: Die finanzielle Möglichkeiten der Eltern haben sogar Einfluss auf die Hirnstruktur von Kindern.6

Eine sehr ungenaue Zeichnung von zwei Händen mit einer handschriftlichen Notiz, in der steht: Hie rwürde ich jetzt zwei Hände zeichnen, die Geld gegen eine Absolventenkappe tauschen, aber ordentliche Hände zeichnen dauert mit jetzt zu lang.

In Deutschland ist es ähnlich: Kinder vermögender Eltern gehen öfter auf Gymnasien oder entscheiden sich für ein Studium.7 Auch das Bildungsniveau der Eltern beeinflusst, welchen Schulabschluss die Kinder machen. Von den Eltern der Kinder, die im Jahr 2019 ein Gymnasium besuchten, hatten 67 Prozent Abitur oder Fachabitur. Eltern von Hauptschüler*innen hingegen hatten überdurchschnittlich oft selbst einen Hauptschulabschluss. Und die Wahrscheinlichkeit, ein Studium zu beginnen, ist größer, wenn die eigenen Eltern studiert haben.8

Neben Bildung und finanziellen Ressourcen haben Rassismus, Sexismus und Ableismus eine Auswirkung auf die Chancen, Leistung zu erbringen und anerkannt zu bekommen. Studien zeigen, dass Lehrer*innen Grundschüler*innen aus Einwander*innenfamilien z.B. bei der gleichen Leseleistung seltener für die Realschule oder das Gymnasium empfehlen.9 Mädchen schätzen ihre mathematisch-technischen Fähigkeiten immer noch schlechter ein als Jungen, obwohl es keine nennenswerten Unterschiede zwischen ihnen gibt.10

Und Kinder mit Behinderung landen häufig auf Förderschulen, weil Eignungstests und Bewertungsverfahren unter ungünstigen Bedingungen stattfinden – obwohl sie eigentlich in der Lage wären, auf eine Regelschule zu gehen.11 Unser System ermöglicht nicht allen gleichermaßen, ihre Leistung zu zeigen und beeinflusst dadurch, wer welche Bildungs- und Lebenschancen erhält.

Leistung ist nie individuell, aber individualisiert

Wir tun so, als arbeiteten alle Menschen vollkommen alleine und abgegrenzt nebeneinander. Es geht ständig um individuelle Leistungen. Das ist insbesondere absurd, weil wir gleichzeitig in einer arbeitsteiligen Gesellschaft leben und unsere Fähigkeit zu Teamwork in jedem Bewerbungsgespräch erneut beteuern (müssen).

Leistungen, wie auch immer man sie genau fassen möchte, werden nie komplett individuell erbracht, sondern sind immer ein kollektives Ergebnis: Zu den guten Mails, die von dem*der E-Mail-Marketing Expert*in verschickt werden, haben auch die Kolleg*innen beigetragen, zum Beispiel Programmierer*innen, Texter*innen, Lektor*innen und der*die Kreis-Lead. Zudem könnte man ohne Weiteres behaupten, dass Freund*innen, Partner*innen, die Familie und sogar die Yogagruppe Anteil daran haben, dass die Leistung entstehen konnte. Zugeschrieben wird sie aber nur einer einzigen Person.

Die Internalisierung der Vorstellung einer Individualleistung führt bei vielen Menschen dazu, dass sie ständig an der Selbstoptimierung arbeiten oder ihren Selbstwert von Bewertungen im Job abhängig machen. Arbeitslose und Rentner*innen fühlen sich entsprechend dieser Vorstellung oft wertlos und sozial ausgegrenzt und Menschen, die an Burn-out erkranken, halten sich selbst für verantwortlich.

Wir vergessen, dass der Manager, der an Eliteuniversitäten studiert hat, sofort einen gut bezahlten Job bekommen hat und jedes Jahr eine Gehaltserhöhung bekommt, oft vermutlich einfach Glück hatte.

Leistungen, wie auch immer man sie genau fassen möchte, werden nie komplett individuell erbracht, sondern sind immer ein kollektives Ergebnis. Zugeschrieben werden sie aber oft nur einer einzigen Person.

Lasst uns Leistung neu konstruieren

Leistung und Arbeit sind in unserer Vorstellung eng miteinander verbunden. Diese Verknüpfung ist historisch gar nicht so alt. Die Kulturwissenschaftlerin Nina Verheyen zeigt in ihrem Buch Die Erfindung der Leistung, dass erst im beginnenden Industriekapitalismus ein mechanisch-technisches und individualistisches Leistungsverständnis entstand.

In der Wissensgesellschaft erbringen immer weniger Menschen körperliche Arbeit. Heute geht es um Innovation, neue Ideen und Kreativität. Während im Industriekapitalismus Leistung noch leicht zu bewerten war („Wer hat heute am meisten Teile ausgestanzt?“), lässt sich Kreativität nur schwer konkret fassen, gezielt hervorrufen oder gar beurteilen. Input und Output lassen sich nur noch näherungsweise bestimmen.

Wir brauchen neue Maßstäbe, um über Leistung zu sprechen. Nur wenn wir uns darüber verständigen, kann Leistung überhaupt ein sinnvoller Parameter sein.

Heute fehlt eine eindeutige Grundlage für die Bewertung von Arbeit und Mitarbeiter*innen. Nur wenn wir uns darüber verständigen, wie wir die Kategorie Leistung verstehen, kann sie ein sinnvoller Parameter sein.

Die Diskussion könnte mit der Frage beginnen, ob eine Leistungsbewertung anhand des Outputs gerecht ist – immerhin spielen hier viele Variablen eine Rolle. Wir könnten auch darüber sprechen, ob es sinnvoll wäre, stattdessen den Input zu bewerten – also die Zeit und Anstrengung, die jemand aufgebracht hat. Oder wollen wir das Konzept Leistung vielleicht ganz ersetzen durch ein offeneres wie das des Beitrags? Fragen, die wir uns dann stellen könnten, sind: Was ist ein wertvoller Beitrag? Welches Verhalten wollen wir würdigen? Was macht uns zu der Organisation, die wir sein wollen und wie können wir diese Aspekte bei der Bewertung von Arbeit berücksichtigen?

Das ist auf den ersten Blick nur eine kleine Veränderung des Blickwinkels. Doch hinterfragen wir dabei eines der wirkmächtigsten Narrative unserer Zeit und schaffen die Voraussetzung für ein neues Leistungsverständnis – eines, das zu den Menschen und zu den Zwecken unserer Organisation passt.

FUßNOTEN

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