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Eine Person sitzt alleine mit Laptop in einer Muschel
Introversion

Warum Introvertierte mehr Anerkennung verdienen

Wer laut ist, gilt als mutig. Beiträge, die weniger sichtbar sind, werden seltener wertgeschätzt. Für Introvertierte ist das ein Problem. Wir sollten unseren Blick für ihre stillen Leistungen schärfen.

Einen Job zu suchen, kann ein Job für sich sein. In Stellenanzeigen beschreiben Arbeitgeber*innen nicht nur fachliche Kompetenzen, sondern auch einen bestimmten Persönlichkeitstyp. Häufig stehen darin Merkmale wie „kommunikationsstark“, „durchsetzungsfähig“ oder „aufgeschlossen“. Nur selten steht darin, dass Bewerber*innen „nachdenklich“, „gewissenhaft“ oder „zurückhaltend“ sein sollen. Es scheint fast so, als suche unsere Arbeitswelt vor allem extravertierte Menschen. Introvertierte scheinen dagegen nicht so gefragt.

Warum ist das so? Werden Potenziale von introvertierten Menschen übersehen? Und wenn ja, wie können wir das verändern?

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Utopie der Sichtbaren

Intro- und Extraversion werden gerne als duales Prinzip verkauft. Dabei gibt es zwischen den beiden Extremen viele Zwischentöne. Die Mischform aus Introversion und Extraversion heißt Ambiversion. Die meisten Menschen haben anteilig sowohl extra- als auch introvertierte Züge, verhalten sich in sozialen Situation aber in der Regel eher nach außen oder innen gewandt. Die Häufigkeit und Länge der Redebeiträge oder das Energielevel nach einer kommunikationsintensiven Tätigkeit können zwischen Intro- und Extraversion unterscheiden. Introvertierte reagieren empfindlicher auf äußere Stimuli als Extravertierte und schützen sich selbst vor Reizüberflutung, indem sie die Kontaktaufnahme reduzieren.

Laut dem Historiker Warren Susman ist Extraversion seit den 1920er Jahren die beliebtere Persönlichkeitseigenschaft. Ausgehend von den USA hat sich das gesellschaftliche Ideal um das 20. Jahrhundert in westlichen Industriestaaten grundlegend verändert und großen Einfluss darauf gehabt, was von Mitarbeiter*innen erwartet wird. In der Culture of Character bis etwa 1900 waren Werte wie Verlässlichkeit, Disziplin und Gewissenhaftigkeit gefragt. Mit dem Wandel zur Culture of Personality im Zuge der amerikanischen Industrialisierung ging es nun verstärkt um die Wahrnehmung und Bewertung der Außenwelt. Susman beschreibt die neue soziale Rolle, die dadurch entstand, als performer, oder auch performing self.

Unsere Arbeitswelt ist inzwischen also eine Welt der Performer*innen. Sie ist von Extravertierten für Extravertierte designt. Das zeigt Susan Cain in ihrem Buch Quiet: The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking: „Der Wirtschaftsaufschwung ruft nach einer neuen Art Mensch – einem kontaktfreudigen Vertreter mit einem gewinnenden Lächeln und festen Händedruck, der gut mit seinen Kollegen auskommt und sie gleichzeitig in den Schatten stellt.“

Bunte, laute Arbeitswelt

Eine introvertierte Person sitzt als einzige im kleinen Büro und wird dafür gefeiert

Unsere Arbeitswelt und mit ihr die Räume, in denen die Arbeit stattfindet, hat sich strukturell angepasst und verändert. Den Auslöser für die Entwicklung von neuen Bürokonzepten in Deutschland sieht Thorsten Hübschen im Internet- und eCommerce-Boom der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre. Interdisziplinäre Teamarbeit wurde wichtiger und erforderte flexible und transparente Büroabläufe.1 Immer mehr Teams arbeiten in Open Workspaces. Kreativer Austausch, Kollaboration und Gemeinschaftlichkeit prägen das Arbeitsklima. Wer heute ein Büro neu konzipieren will, kann im New Workspace Playbook nachlesen, wie die Transformation funktioniert: „Teamarbeit und Dialogarbeit heißt Austausch. Flächen, die das unterstützen, sind von Natur aus trubeliger. Jeder bekommt mehr von der Arbeit der anderen mit. Das ist die Idee.“ Die Autor*innen weisen zwar auch auf die Notwendigkeit von Stillarbeit hin, die in Denkerzellen, Bibliotheken und Nischen realisiert werden kann. Der weitaus größere Teil widmet sich aber Konzepten zur Begegnung.

Vermehrt stattfindende Meetings und Brainstormings in großen Gruppen erfordern den aktiven Einsatz von Körpersprache, Stimme, Gestik und Mimik – physische Ausdrucksformen, die Introvertierten in der Regel schwerfallen. Das eigene LinkedIn-Netzwerk zu pflegen, Gruppen-Brainstormings, Pitches – alles erfordert Kommunikation, die nach außen gewandt ist. Ob Introvertierte hier ihr volles Potenzial entfalten können? Wohl kaum.

Es erfordert aber noch viel mehr Mut, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, obwohl sie nicht in eine extravertierte Arbeitswelt passen.

Die Kraft der Introvertierten

Dabei liegt aber gerade in der Zurückhaltung des*der einzelnen ein großes Potenzial für Organisationen. Susan Cain weist darauf hin, dass introvertierte Leader*innen sehr aufmerksame Zuhörer*innen sind, ein Charakterzug, der neben Selbstbewusstsein, Dominanz und Präsenz wahrscheinlich eher nebensächlich wirkt. Tatsächlich sind sie dadurch aber empfänglicher für externe Vorschläge. Bei einem introvertierten Führungsstil bestehen größere Spielräume für Mitarbeiter*innen, eigene Ideen zu entwickeln. Und die Chancen, dass die Ideen gesehen und aufgenommen werden, sind größer.

Auch bei Entscheidungsprozessen ist die Perspektive von Introvertierten wertvoll. Während Extravertierte fähig sind, schneller auf Reize zu reagieren, weisen der Frontallappen und vordere Thalamus bei Introvertierten höhere Aktivitäten auf. Introvertierte beziehen also mehr Informationen ein, um Probleme zu analysieren und zu lösen. Das führt dazu, dass sie weniger riskante Entscheidungen treffen.

Eine Studie des Management-Professors Adam Grant zeigt, dass Teams, die eher passiv sind, von extravertierten Leader*innen besser motiviert werden. Ein introvertierter Führungsstil führt dagegen bei Mitarbeiter*innen, die bereits Eigeninitiative zeigen, zu besseren Ergebnissen. Introvertierte fühlen sich von selbstständigen Kolleg*innen seltener bedroht. Ihnen geht es weniger darum, selbst im Mittelpunkt zu stehen, sondern darum, in Kooperation das beste Ergebnis zu erzielen.

Entschlossenheit, Risikobereitschaft und Unerschrockenheit sind Begriffe, die sich leicht unter mutiger Extraversion verbuchen lassen. Es erfordert aber noch viel mehr Mut, zu den eigenen Bedürfnissen zu stehen, obwohl sie nicht in eine extravertierte Arbeitswelt passen. Wir sollten unsere Blicke für die Leistungen introvertierter Menschen schärfen.

Den Blick schärfen: Wie Wertschätzung gegenüber den Ergebnissen Introvertierter alltäglich wird

Die richtige Gruppengröße

Gruppengrößen haben Einfluss auf Introvertierte: Kleinere Gruppen funktionieren für Introvertierte besser. Wenn Möglichkeiten zum Rückzug existieren, kann sich das positiv auf ihre Leistungen auswirken. Das bedeutet natürlich nicht, dass jede Aufgabe in Einzelarbeit verrichtet werden sollte. Studien zeigen aber, dass viele Gruppenformate sowieso nicht sonderlich zielführend sind. In deutschen Unternehmen werden durchschnittlich sechs Stunden pro Woche in Meetings verbracht, die Hälfte davon ist unproduktiv. Ähnliche Erkenntnisse zeigen sich auch bei Brainstormings. Wir geben Verantwortung ab, wenn andere kompetente Teammitglieder mit am Tisch sitzen, die begabtesten Teammitglieder verschlechtern ihre Leistungen, indem sie sich an ihr Umfeld anpassen. Und aus Angst vor Abwertung teilen wir keine Ideen, die noch nicht fertig gedacht sind.

Entscheidungen hinterfragen: Die Reflexionsspirale

Wir neigen dazu, den dominantesten Gesprächsführer*innen Glauben zu schenken, unabhängig von der Richtigkeit ihrer Aussagen. Das kann zu ziellosen Diskussionen und Fehlentscheidungen führen. Es lohnt sich, in Entscheidungsprozessen auf sich selbst zu gucken: Lasse ich mich gerade von Charisma und Selbstbewusstsein überzeugen – oder von Argumenten? Dabei hilft die Reflexionsspirale von Borton und Driscoll. Mit den Fragen „Was ist passiert?“, „Welche Vor- und Nachteile ergeben sich daraus?“ und „Welche Maßnahmen und Planungsschritte nehme ich daraus mit?“ werden Prozesse in drei Stufen aufgearbeitet. Spätestens beim zweiten Schritt, der Analyse und Interpretation, können Entscheidungen nochmal auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Die Spirale entsteht dadurch, dass Erkenntnisse bei wiederholter Anwendung immer weiter vertieft werden.

Eine Person sitzt auf einer Champagnerflasche und liest
Abbildung der Reflexionsspirale von Borton und Driscoll
Die Reflexionsspirale von Borton und Driscoll

Arbeit transparent machen

Extravertierte haben meistens keine Scheu, ihre Ideen zu präsentieren. Introvertierte häufig schon. Organisationen gehen dadurch wichtige Perspektiven verloren. Und die Qualität der Arbeit leidet darunter, wenn es nicht um das geht, was wichtig ist, sondern was am lautesten vorgebracht wird.

Hier kann es helfen, Strukturen zu schaffen, in denen Arbeitsschritte und -ergebnisse offengelegt werden. Denn da, wo es feste Regeln gibt, dass und wie Arbeit transparent gemacht wird, verliert die Lautstärke an Bedeutung. Umgesetzt ist das z.B. in den Meetings aus Holacracy. Dort hat jedes Meeting einen festgelegten Teilnehmer*innen-Kreis. Es geht nicht um Personen, sondern um Rollen und innerhalb der Gesprächsrunden, die ohne Unterbrechung stattfinden, gibt es klare Regeln. Die Moderationsrolle fragt die verantwortlichen Projektinhaber*innen beispielsweise nach Updates. Falls es keine gibt, ist die einzig erlaubte Reaktion: „Kein Update“. Lange Erklärungen, warum es in einem Projekt keinen Fortschritt gab, sind explizit unerwünscht. Diese und andere Regeln führen dazu, dass immer die Person spricht, die aktuell etwas Wichtiges zu sagen hat. Das bedeutet vor allem für diejenigen ein Umlernen, die es gewohnt sind, zu allem etwas zu sagen zu haben.

Fest steht: Es gibt viele gute Gründe, warum in Stellenanzeigen künftig weniger „kommunikationsstarke“, „durchsetzungsfähige“ oder „aufgeschlossene“ Mitarbeiter*innen gesucht werden sollten. Und mehr stille Denker*innen und Tüftler*innen, die zwar unaufdringlich am Rand des nächsten Teamevents stehen – aber mindestens genauso mutig sind.

FUßNOTEN

  • 1

    Thorsten Hübschen: Zukunft des Büros – Büro der Zukunft. In: H. Fortmann & B. Kolocek (Hrsg.): Arbeitswelt der Zukunft, S. 70.

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