Vielen Menschen fällt es schwer, ihre eigenen Stärken zu benennen. Wie schaffen wir es, unsere Stärken besser kennenzulernen? Und wie funktioniert stärkenorientiertes Führen?
Wer seine*n Chef*in, Kolleg*innen oder Mitarbeiter*innen in Verlegenheit bringen möchte, sollte sie nach ihren größten Stärken fragen. Denn wir tun uns meist schwer damit, diese zu benennen. Schon ab dem Kindesalter wird unser Blick für Defizite und Mängel geschult. Das, worin wir gut sind, fällt uns hingegen gar nicht wirklich auf. Doch wer Stärken kennt, nutzt und ausbaut, die eigenen und die anderer, arbeitet und lebt motivierter, stressärmer, effizienter, ja: glücklicher! Stärkenorientiert arbeiten heißt gerade nicht: „Ich, ich, ich“. Es bedeutet vielmehr, etwas für das Wir und das Miteinander zu tun, wenn wir Talente und Erfahrungen würdigen und in Wirkung bringen.
Was Stärken eigentlich sind – und was nicht
Befragungen des Stärkenforschers Alex Linley haben ergeben, dass rund zwei Drittel von uns ihre eigenen Stärken nicht kennen. Und die, die sie kennen, haben meist ein falsches Bild: Stärken sind nämlich nicht nur Dinge, die uns leicht fallen, sondern vor allem Handlungen, Denkweisen und Arten des Empfindens, die mit unserem „echten Selbst“ verbunden sind. Linley definiert sie in seinem Strengths Profile Book als Muster an Handlungen, Gedanken, Emotionen, die
- eine gute Performance ermöglichen.
- mehr Energie geben als rauben, weil sie zu unserer Identität gehören.
- regelmäßig und häufig genutzt werden.
Doch was genau sind Stärken? Jede Kultur hat ihre eigenen Stärkenbegriffe. Chuzpe ist der jiddische Begriff für eine Mischung aus Charme, Hartnäckigkeit und Schlitzohrigkeit, Schneid wird in Bayern für Mut, Unerschrockenheit verwendet und die finnische Nationaltugend Sisu bedeutet in etwa Zähigkeit oder Unverdrossenheit. Aber je nach Persönlichkeit sind uns auch unterschiedliche Stärken wichtig, und jede*r meint etwas leicht anderes, wenn sie*er von Ausdauer, Bescheidenheit, Charisma, Kompromissfähigkeit, Mut, Toleranz oder Zivilcourage spricht.
Verwandte von Stärken
- Kompetenzen = Was ich gut kann, meine Skills
- Erfahrungen = Wo ich herkomme, die biografische Summe meines Tuns
- Ziele = Wo ich hin will, was ich vom Leben, von anderen, von mir selbst erwarte und erhoffe
- Werte = Was mir wichtig ist, entsprechend meinen Prinzipien und Ansichten über richtig und falsch
- Ressourcen = Wer und was mich stützt – von Freundschaften über Ausbildungen bis hin zu WLAN …
- Interessen = Was mich fasziniert und begeistert, wofür ich brenne
Und die Schwächen?
Der Eine ist nicht so gut im Planen, die Nächste tut sich schwer mit Kundenakquise, der Übernächste kommt vor jeder Moderation eines Meetings ins Schwitzen: Was wir als Schwäche erleben, sollte auch als Schwäche gesehen werden – und nicht als „Delta“, „Entwicklungspotenzial“ oder „Noch-nicht-Stärke“. Denn so wie jede*r von uns Stärken hat, hat auch jede*r Schwächen. Aus denen werden nie Stärken, egal wie viel Aufwand wir hineinstecken. Deswegen ist es empfehlenswert, diese Schwächen erst einmal anzunehmen.
Wir können und müssen und werden nicht alles gleich gut können. Häufig ist es sinnvoll, eine Schwäche wegzudelegieren: Ich tue mich extrem schwer mit Excel-Tabellen, meine Team-Nachbarin ist darin sehr gut – kann nicht sie sich diesem Thema mehr widmen und ich dafür Aufgaben übernehmen, die ihr schwerfallen? Wenn aber für die Arbeit in meinem Bereich das Interpretieren von Daten extrem wichtig ist und meine Excel-Schwäche ein echtes Hindernis darstellt, sollte ich einen Gut-genug-Ansatz fahren: Welches Mentoring kann mir helfen, meine Excel-Schwäche so weit zu kompensieren, dass ich und die anderen mit ihr klarkommen?
Welchen Nutzen hat es, Stärken zu stärken?
Wer stärkenfokussiertes Organisieren, Arbeiten, Führen und Weiterbilden als Employer-Branding-Tools begreift, hat zwar einerseits Recht – greift aber andererseits viel zu kurz. Denn zahlreiche Studien belegen, dass Mitarbeiter*innen, die ihre Stärken kennen, benennen und mit diesen arbeiten …
- über höhere Lebenszufriedenheit berichten.
- deutlich zufriedener und kreativer arbeiten.
- seltener krank sind und sich weniger gestresst erleben.
- mehr Sinnhaftigkeit in ihrer Tätigkeit empfinden.
Stärkenfokussierte Arbeits- und Führungskultur hat also zahlreiche Effekte, sowohl auf den Einzelnen als auch auf Teams, Abteilungen und ganze Organisationen.
Stärken stärken, bei mir und anderen – wie das konkret geht
Wie können wir Stärken ausbauen? Wie lassen sich eigene Stärken und Tugenden besser verstehen, nutzen und weiterentwickeln? Und mit dem Blick auf andere: Wie können wir Mitarbeiter*innen, Kolleg*innen und andere Menschen stärker nach Stärken führen und eine stärkenorientierte Organisations- und Unternehmenskultur fördern? Um die eigenen Stärken besser nutzen zu können, müssen wir sie erst einmal kennen. Dabei kann ein Stärkentest wie der des VIA-Institutes oder das Clifton Strengths-Assessment von Gallup helfen. Ergänzend dazu könnt ihr euch folgende Fragen stellen:
Fragen, die Klarheit über die eigenen Stärken geben
- Was mache ich seit Kindheitstagen gern und gut? Wofür habe ich früh Lob bekommen?
- Welche Tätigkeiten und Aufgaben (in der Arbeit) machen mir besonders viel Freude?
- Auf welche Tätigkeiten und Aufgaben freue ich mich in den nächsten Wochen und Monaten?
- Welche Tätigkeiten müssen bei mir nie auf eine To-do-Liste, weil ich sie leicht, gern und erfolgreich erledige?
Wer einen Stärkentest absolviert hat, kann die vier bis fünf identifizierten Top-Stärken genauer untersuchen:
- Welcher Begriff passt für mich auf die jeweilige Stärke am besten?
- Wo würde ich die vorgegebenen Etiketten wie anpassen wollen?
- Wie mache ich mit meinen Stärken die Arbeit einfacher, leichter, besser – für mich, für die Kolleg*innen, für Kund*innen und so weiter?
- Wie könnte ich mein Jobprofil noch stärker an meinen Stärken ausrichten? Für welche Tätigkeiten, die ich gut kann und leidenschaftlich mache, will ich Verantwortung übernehmen?
Wer über eigene Stärken besser Bescheid weiß, dem*der fällt es häufig alleine dadurch leichter, andere nach ihren Stärken zu führen. Auch hierzu noch ein paar weitere Tipps:
Hinweise zur stärkenbasierten Führung
- „Bravo“, „Danke“, „gut gemacht“ – das ist schon mal nicht schlecht. Besser: gute Leistungen konkret und spezifisch loben und mit den jeweiligen Stärken verbinden, wie zum Beispiel: „Toll fand ich, wie kreativ du deine Präsentation entworfen und ausgearbeitet hast und mit wie viel Interesse und Flexibilität dann beim Kunden auf die Fragen eingegangen bist!“ Ein solches Lob bietet sich unter anderem im Jahresgespräch an.
- Bei freiwerdenden oder neuen Stellen die Teammitglieder nach Stärkenprofilen fragen: „Worin müsste eurer Meinung nach der*die künftige Kolleg*in besonders gut sein? Was sollte sie*er besonders gut können? Was ist vielleicht gar nicht so wichtig, weil es durch die bestehenden Stärken schon gut abgedeckt ist?“
- Viele Konflikte zwischen Menschen haben mit mangelnder Anerkennung von unterschiedlichen Stärken zu tun (zum Beispiel Konflikte zwischen der Strukturierten und dem Kreativling, dem Planer und der Spontanen). Wenn Führende diese Stärken und deren Wert für das Gesamtteam, aber auch die möglichen Spannungen zwischen diesen Stärken, kennen und wertschätzen, nimmt das vielen Konflikten das Streitpotenzial.
- Kick-offs, Betriebsausflüge, Führungsbreak-outs, Weihnachtsfeiern und andere Meetings lassen sich gut nutzen, um nicht nur über Zahlen und Ziele zu sprechen. Hier könnten auch stärkenorientierte Team-Building-Aufgaben eingeplant werden.
- Fort- und Weiterbildungen werden häufig nur als Reparatur von Defiziten betrachtet. Wenn Mitarbeiter*innen und Führende allerdings gelegentlich Schulungen besuchen, bei denen sie ihre schon vorhandenen Stärken festigen können, wäre für echte Stärkenkultur viel getan.