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Eine Collage, die Menschen, die für Firmen aus der Gig Economy arbeiten vor einem Gebäude zeigt.
Milliarden vs. Milliardäre

Wir sollten aufhören, Firmen und Produkte zu finanzieren, die niemand braucht

Eigentlich fokussieren wir uns eher auf die halb vollen als auf die halb leeren Gläser. Doch manche Dinge machen uns wütend. Deshalb gibt es diese Kolumne, mit der wir unserer Wut Luft machen. Diesmal: Milliarden an Venture Capital fließen jedes Jahr in Unternehmen, die unserer Gesellschaft schaden. Das muss aufhören.

Berlin ist zur Hauptstadt der Investoren geworden: 1 Nicht nur treiben Immobilienfonds die Mieten in die Höhe, es fließt auch viel Wagniskapital, englisch Venture Capital, in die Metropole. Von den rund zehn Milliarden Euro, die pro Jahr in Deutschland in Start-ups investiert werden, gehen rund fünf Milliarden nach Berlin.2 Das könnte eine rundherum gute Nachricht sein: Ist das nicht Geld für junge Unternehmen, die sich aufmachen, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen? Geld, das in Form fairer Gehälter zur Verbesserung der Lebensbedingungen in der Stadt beitragen könnte?

Leider ist Venture Capital genauso wenig dem Gemeinwohl verpflichtet, wie es Immobilienkonzerne sind. Etwas zugespitzt ist die Logik dieses Kapitals recht ernüchternd: Privilegierte Männer geben anderen privilegierten Männern Geld, mit dem Ziel, dass am Ende beide mehr Geld haben.3 Oft findet das auf dem Rücken derjenigen statt, die die eigentliche Arbeit machen. Es ist kein Zufall, dass Wagniskapital in der Regel gut bezahlte Jobs für Privilegierte schafft und schlecht bezahlte Jobs für diejenigen, die sich aufs Fahrrad setzen oder an die Packstraße stellen müssen, um die eigentliche Dienstleistung zu erbringen.

Damit erhöhen sie in einer Stadt wie Berlin vor allem die Ungleichheit, und mit ihrem Wirtschaften richten sie außerdem ökologischen Schaden an. Sie verschärfen die Probleme unserer Zeit, statt sie zu lösen.

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Die Organisationen ähneln sich

Schaut man sich die Unternehmen an, die in den letzten Jahren in Berlin große Summen an Kapital einsammeln konnten, zeigt sich schnell, welche Art von Themen die Investorenwelt begeistern:

Zalando, als Kopie des US-amerikanischen Online-Modehändlers Zappos gegründet, sammelte schon vor dem Börsengang fast 500 Millionen Euro Wagniskapital ein. Das Unternehmen ist inzwischen eine*r der größten Arbeitgeber*innen Berlins und bekannt dafür, am oberen Ende der Hierarchie sehr gut und am unteren Ende sehr schlecht zu bezahlen: Laut dem Bewertungsportal Kununu verdienen Logistiker*innen bei Zalando nur etwas mehr als den Mindestlohn.5 Gleichzeitig machte das Unternehmen Schlagzeilen, weil es seinen Vorständen regelmäßig absurd hohe Jahresboni bezahlt, in einem Fall waren es 89 Millionen Euro Jahresbonus für einen Vorstand.6

Ein weiteres Beispiel ist Gorillas, ein Berliner Lieferdienst, der in wenigen Jahren schwindelerregende 1,2 Milliarden Euro Wagniskapital mobilisieren konnte. Was dieses Unternehmen verspricht: „Wir bringen dir Chipstüte und Zahnbürste bis zur Haustür.“ Worauf es dafür setzt? Vor allem auf prekäre Arbeit, nämlich schlecht bezahlte Zusteller*innen, die noch dazu mit großen Anstrengungen daran gehindert wurden, eine Gewerkschaft zu gründen. Streikende Mitarbeiter*innen wurden sogar gefeuert.7 Inzwischen wurde das Unternehmen für rund zwei Milliarden Euro von der Konkurrenz gekauft.8 Investor*innen und Gründer*innen kommen auf ihren Profit, die ausgebeuteten Arbeiter*innen haben das Nachsehen.

Die Reihe lässt sich beliebig fortsetzen: Delivery Hero, der Platzhirsch im Essensliefer-Game, hat fast zehn Milliarden Euro Kapital auf sich gezogen und damit vor allem Wettbewerber aufgekauft. Geändert hat sich dadurch vor allem das Berliner Straßenbild: Inzwischen sind dort überall Essenszusteller zu sehen, die sich bei Wind und Wetter abstrampeln, im Berliner Verkehr ihr Leben riskieren und sich beim Schleppen der schweren Transporttaschen den Rücken ruinieren.

Convenience und echte Probleme

Natürlich sind einige der beschriebenen Services bequem und wir haben uns an sie gewöhnt. Aber lösen sie wirklich wichtige Probleme? Oder sind sie lediglich Convenience, die bereits gelöste Probleme noch eine Spur einfacher oder günstiger machen? Wie Marie-Luise Wolff in ihrem Buch Die Anbetung 10 beschreibt, werden hier überhaupt keine neuen Probleme gelöst.

Eine bereits vorhandene Lösung (Essen bestellen, Mode kaufen, Banking) wird lediglich ein bisschen bequemer oder günstiger gemacht. In einem Wort: All diese Gründungen sind lediglich Convenience. Gemessen an den großen Problemen unserer Zeit absolut verzichtbar, zumal sie diese Probleme auch noch verursachen und verschärfen.

Aus der Perspektive der Überprivilegierten mag es Sinn ergeben, Convenience-Produkte zu finanzieren. Für die Gesellschaft als Ganzes ist es jedoch eine katastrophale Priorisierung:

Zum einen ist es ein wirtschaftliches Nullsummenspiel: Jeder Euro, der in ein Convenience-Start-up fließt, jede Stunde Arbeitskraft, die dort geleistet wird, kann nicht in ein sinnvolleres Projekt gehen. Das ist das eigentlich Tragische daran: Es gibt unfassbar viel privates Kapital und mehr qualifizierte Arbeitskraft als jemals zuvor – all dieses Potenzial könnte längst dafür genutzt werden, die Erderwärmung zu reduzieren und andere wichtige Probleme unserer Zeit zu lösen. Wird es aber nicht.

Hinzu kommt: Diese Unternehmen verbrauchen Ressourcen, verursachen Emissionen und fügen dem Planeten und der Gesellschaft, in der sie wirken, Schaden zu. Es mag nicht auf den ersten Blick klar sein, aber ein Unternehmen, das schlecht bezahlte Arbeitskräfte einspannt, um Reiche noch reicher zu machen, trägt auch zur Umverteilung von unten nach oben bei. Dieser Trend ist seit Jahren in Städten wie Berlin zu beobachten und trägt ganz massiv zur Spaltung der Gesellschaft bei.11

Aus der Perspektive der Privilegierten mag es Sinn ergeben, vorhandene Lösungen immer bequemer zu machen. Für die Gesellschaft ist es jedoch eine katastrophale Priorisierung.

Was wir jetzt brauchen

Für mich wird an diesem Beispiel sichtbar, wo gerade der größte Fehler unserer Demokratie liegt: Es hat zwar jeder Mensch eine politische Stimme, aber die ist nicht mehr viel wert in einer Gesellschaft, die hauptsächlich von Wirtschaft und Kapital gestaltet wird. Autor*innen wie Anita Blasberg12 und Thilo Bode13 kommen zu dem Schluss, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die Politik einigermaßen machtlos einer viel mächtigeren Wirtschaftswelt gegenübersteht. Während unsere Wirtschaft und das Kapital kontinuierlich gewachsen sind, wurde der Staat die letzten Jahrzehnte, der neoliberalen Doktrin folgend, immer weiter abgebaut und verkleinert.

Das wäre an sich erst einmal kein Problem, wäre die wirtschaftliche Macht genau wie die politische demokratisch organisiert: Jede Person hat eine Stimme und entscheidet, wo investiert wird und in welche Richtung sich die Wirtschaft entwickelt. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein: Das Kapital ist so konzentriert auf eine kleine Elite, dass es nicht abwegig ist, wie Evgeny Morozov von einem neuen Feudalismus zu sprechen.14 Dass in einem Land wie Deutschland ein Prozent der Bevölkerung rund 35 Prozent des gesamten Vermögens auf sich vereint,15 während die Hälfte der Bevölkerung gar kein nennenswertes Vermögen besitzt, ist untragbar. Vor allem, weil sich dieser Trend aktuell immer weiter verschärft.

Wenn man in Berlin darüber abstimmen ließe, in welche Art von Projekten die fünf Milliarden Euro Venture Capital gehen sollten, die Jahr für Jahr investiert werden, würden dann Unternehmen wie Zalando und Gorillas dabei herauskommen? Oder würden Projekte finanziert, die dem Gemeinwohl dienen, die Wohnungskrise lösen, die Obdachlosen von der Straße holen und die Lebensqualität für alle erhöhen?

Ist es fair, dass eine kleine, sehr homogene Clique darüber entscheidet, welche Organisationen unser Straßenbild prägen, wie sich unsere Städte verändern und womit wir in Zukunft Geld verdienen?

Für Verfechter*innen eines ungezügelten Finanzkapitalismus mag es nach Sozialismus klingen, Bürger*innen Mitspracherecht bei der Verteilung von Venture Capital zu geben.16 Ich bin mir jedoch sicher, dass die nächste Entwicklungsstufe unserer Demokratie genau das enthalten muss: faire, demokratische Mechanismen, die unsere Wirtschaft in eine Richtung lenken, die für alle gut ist – nicht nur für eine kleine Minderheit.

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