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Eine Figur, die fallschirmspringt und die kopfüber nach unten fliegt.
Mut

Wie schaffen wir es, mutig zu sein?

Angst macht ohnmächtig. Mut bedeutet, sich zu trauen – trotz Angst, Unsicherheit oder Gefahr. Das kann ganz unheroisch aussehen. Und: Ein bisschen Angst muss sein.

„Mein Herz pocht immer noch jedes Mal sehr schnell, wenn ich hier hochkomme“, sagt Gary Hunt, als er oben auf dem 27 Meter hohen Sprungturm ankommt. Er spannt den ganzen Körper an und streckt die Arme nach oben. Gleich wird er mit einer Geschwindigkeit von bis zu 95km/h auf das Wasser zurasen.

Der Brite ist dafür bekannt, das Klippenspringen in neue Extreme zu pushen. 2019 stellte er einen Weltrekord mit dem perfekten Sprung aus 27 Metern in Beirut auf. „Ich habe vor jedem Sprung Angst. Ein kleiner Fehler kann sehr schmerzhaft sein“, sagt er im Interview mit dem Internationalen Schimmverband. Gary Hunt ist der weltweit erfolgreichste Klippenspringer. Doch auch für ihn gilt: Eine Bauchlandung auf der Wasseroberfläche aus einer Höhe von 27 Metern ist in etwa so wie eine Landung auf hartem Beton aus 13 Metern Höhe. Deswegen darf bei so einem Sprung nichts schiefgehen. „Du brauchst jede Menge Mumm!“, sagt er.

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Mut ist kein Gefühl

Mutigsein bedeutet, etwas Risikohaftes zu tun, sich etwas zu trauen. Wir beweisen Mut in Situationen, in denen eine potenzielle Gefahr besteht. Bei einem Sprung von einer hohen Klippe kann trotz sorgfältiger Vorbereitung und Training jedes Mal etwas schiefgehen. Ein solcher Mut braucht Willensstärke, mit der Gary Hunt seine Angst überwindet. Wer mutig ist, kennt Angst. Sie gehört zum Mut dazu.

Alle Menschen haben vor etwas Angst. Mutig handeln bedeutet aber, etwas dennoch zu tun. Wenn wir etwas nicht abschätzen, kontrollieren oder vorhersagen können, gehen wir ein Risiko ein, wenn wir es trotzdem tun. Vor diesem Risiko haben wir Angst. Für ihre Überwindung brauchen wir Mut.

Mut ist also keine Emotion, sondern zeigt sich im Verhalten. Was mutiges Verhalten begünstigt, ist Gegenstand der Psychologie, eine klare Antwort hat sie aber nicht. Mut ist wenig beforscht, weil er so komplex ist. Der Begriff Mut stammt aus dem Altgermanischen, von muod, und bedeutet Gemüt(szustand), Leidenschaft, Entschlossenheit. Über die Zeit und an verschiedenen Orten der Welt wurde Mut immer wieder mit moralischen Aspekten in Verbindung gebracht oder als Tugend beschrieben. Die US-amerikanischen Psychologen Christopher Peterson und Martin Seligman bezeichnen Mut neben Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Weisheit, Mäßigung und Transzendenz als eine der sechs Grundtugenden, die in allen religiösen und philosophischen Traditionen eine Rolle spielten.

Mut ist also keine Emotion, sondern zeigt sich im Verhalten.

Tatsächlich finden wir in der abendländischen Tradition bereits bei Homer in der Ilias eine Beschreibung von Mut als (männliche) Tapferkeit. Aristoteles nahm einige Hundert Jahre später das Konzept Mut genauer unter die Lupe und beschrieb Mut als notwendige Tugend für das gute Leben. Das können wir mit Aristoteles als eines verstehen, mit dem wir rückblickend zufrieden sein können. Ein Leben in Feigheit, in dem die Angst bestimmt, was wir tun und was nicht, wird uns rückblickend nicht zufrieden machen. Wir müssen also mutig sein, um ein gutes Leben leben zu können. Wer etwas will, braucht den Mut, sich dafür einzusetzen. Mut ist eine treibende Kraft.

Mut aus Liebe

Die östliche Tradition verbindet Mut mit Liebe. Im Daoismus bedingt die Liebe den Mut: Courage comes from caring. Der Wille zum Mutigsein entsteht, weil uns etwas nicht egal ist. Wir überwinden die Angst, weil uns etwas anderes wichtiger ist – für das wir bereit sind, ein Risiko einzugehen. Mut macht uns trotz Angst handlungsfähig, und zwar für das Gute: Er ermöglicht uns, neue Erfahrungen zu machen oder gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen.

Wofür wir Mut brauchen, ist individuell sehr verschieden. Wer sehr schüchtern ist, verhält sich mutig, wenn er*sie sich überwindet, zum Neujahrsempfang der Firma zu gehen – vielleicht sogar mutiger als ein gut trainierter Extremsportler, der nach jahrelangem Training einen großen Sprung wagt?

Wenn wir eine Herausforderung dagegen mutlos angehen, steigt die Wahrscheinlichkeit des Misserfolgs. Doch wer im Leben immer wieder eins auf die Mütze bekommt (oder gar keine Mütze hat), kann über die Zeit das Vertrauen in die Welt verlieren und mutlos werden. Mutlosigkeit ist dann eine Reaktion auf die wiederholte Erfahrung, den Umständen, diskriminierenden Strukturen und Schicksalen ausgeliefert zu sein. Mit diesem Blickwinkel ist Mut also auch ein Privileg – und es kann sehr mutig sein, nicht aufzugeben, sondern noch mal aufzustehen und weiterzumachen.

Helden retten die Welt

Die Gesellschaft bewertet allerdings oft besonders riskantes Verhalten in gefährlichen Situationen als mutig. Die Verkörperung mutigen Handelns ist der Held. Richtig, der Held, nicht der*die Held*in, denn Mut galt lange als männliche Tugend. Im Hochmittelalter wurde er in epischen Dichtungen und Minnesang als ritterliche Tugend besungen. Ritter galten als furcht- und tadellos. Heute trägt der Held keine Rüstung mehr, kämpft aber dem Ideal nach immer noch selbstlos und mutig gegen alles, was die Menschheit bedroht und gefährdet. Auffällig dabei: Er kämpft alleine. In unserer kulturellen Narration des Helden verherrlichen wir Mut, die Überwindung der Angst, die stark und unabhängig macht. Dieses Bild von Mut ist auch mit Männlichkeit verknüpft: Viele Männer versuchen auch heute, diese Kunst der Unabhängigkeit zu perfektionieren, keine Schwäche zu zeigen, wenig über ihre Gefühle zu reden, und möchten am liebsten alleine die Welt retten oder wenigstens die eigene Firma.

Eine Figur, die über ihren eigenen Schatten springt.

In einer männlich geprägten Wirtschaftswelt bedeutet Mutigsein deshalb auch, viel zu wagen und ein großes Risiko einzugehen. An der Börse zählen mitunter gute Storys mehr als ein bedachter Blick auf die Zahlen und selbstbewusst performter Gigantismus befeuert Spekulationen. Unternehmertum haftet ein heldenhaftes Image an, weil Unternehmerinnen etwas zu wagen scheinen. Einkommensunterschiede in unserer Gesellschaft werden immer wieder damit begründet, dass Unternehmerinnen das Risiko tragen. Dieser Mut soll in hohen Gehältern honoriert werden. Was dabei unbeachtet bleibt, ist die Frage, wer es sich leisten kann, skin in the game zu haben und ein großes Risiko einzugehen. Wer genug finanzielle Absicherung hat, kann gründen und dabei scheitern, ohne in eine prekäre Lage zu rutschen. Da ist dann gar nicht so viel Mut dabei, sondern es ist vor allem Privileg in Aktion. Amazon-Gründer Jeff Bezos sagt sogar, er habe keine Angst, dass er alles verlieren könnte, diese Möglichkeit sei schließlich eine Tatsache.

Wer Risiken ignoriert, zaubert sie nicht weg.

Wer wirklich etwas wagt.

Vor einer gefährlichen Situation keine Angst zu haben, hat aber nicht unbedingt etwas mit Mut zu tun. Hat jemand sehr große Lust am Abenteuer und ist auf der Suche nach risikoreichen Situationen oder ignoriert er*sie die Gefahren, sprechen wir von Übermut, Tollkühnheit oder Waghalsigkeit. Wer undurchdacht und ohne Erfahrung eine riesen Unternehmung startet, aus dem Nichts und ohne Plan den ganz großen Wurf machen will, ist nicht mutig, sondern handelt tollkühn – auch falls er aus der Nummer heil wieder rauskommt. Maßgeblich für mutiges Handeln ist das Risikobewusstsein. Unerschrockenes Handeln dagegen bedeutet, eine Gefahr falsch einzuschätzen.

Wenn die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten jedes Risikobewusstsein übertüncht, wird dieser Mut schnell zum Übermut. „Let's just do and be legends“, lass es uns durchziehen und legendär werden, werden die Gründer des Fyre Festivals, Billy McFarland und Ja Rule, zitiert. Sie versprachen 2017 das größte Event des Jahrzehnts, ein Luxus-Festival auf den Bahamas, zu veranstalten – waren aber mit der Umsetzung komplett überfordert und unfähig, das sich selbst und anderen einzugestehen. Das Unterfangen war ein Desaster und endete mit sechs Jahren Haftstrafe für Billy McFarland wegen Betrugs an Investor*innen und Ticketkäufer*innen. Tesla-Gründer Elon Musk brachte 2018 die Bergungsmission der Jugendfußballmannschaft aus der Tham-Luang-Höhle in Gefahr, als er medial gut inszeniert in gewohnt überheblicher Manier mit einem eigenen, wie sich herausstellte, ungeeigneten, U-Boot nach Thailand fuhr. Jan Marsalek führte mit einer Bilanzfälschung in Milliardenhöhe Wirecard diesen Sommer in die Insolvenz und machte sich dann aus dem Staub, was für ein mutiger Abgang.

Wer Risiken ignoriert, zaubert sie nicht weg. Und wer sich und die eigene Unternehmung überschätzt und sorglos mit Gefahren umgeht, läuft Gefahr, das eigene Projekt in den Ruin zu führen, mit einer Menge Kollateralschäden. Meist bezeichnen wir diejenigen als mutig, die sich das trauen, wovor wir selbst zurückschrecken oder was wir als besonders risikoreich deuten. Doch vielleicht sind diese männlichen Unternehmerhelden eher von Geltungssucht und Allmachtsfantasien motiviert als von Mut. Der Pseudo-Mut von heroischen Managern und CEOs lässt sich dann auch als Feigheit deuten, als das Unvermögen, Fehler einzugestehen, mit anderen zu teilen und sich verletzlich zu machen.

Eine Feige, daneben ein Pfeil der auf den Text „Feige“ zeigt

Heldenmut tut nicht gut

Wer mutig handelt, bleibt mit seiner Angst verbunden. Angst ist gar keine so schlechte Beraterin. Sie ermöglicht ein Abwägen und verantwortungsbewusstes Ausüben des Muts. Es kann mutig sein, ganz unheroisch die Kontrolle abzugeben und kein Held zu sein, auf die Anerkennung zu verzichten – weil etwas anderes wichtiger ist oder weil man zugeben muss, dass man etwas verbockt hat und Hilfe braucht.

Es ist mutig, sich unseren großen Erzählungen zu wirtschaftlichem Erfolg zu widersetzen und klein oder mittelgroß zu denken und zukunftsfähige und nachhaltige Visionen zu entwickeln, und zum Beispiel Mut zum Zebra zu haben oder zu Unternehmungen, die ausschließlich Mehrwert für die Gesellschaft zum Ziel haben und wenig finanzielle Sicherheit versprechen. Und egal wie groß und erstrebenswert die eigene Vision erscheint, man sollte auch in der Lage sein, einen kritischen Blick darauf zu werfen.

Es kostet Mut, Gefühle zu zeigen und sich damit verletzlich zu machen, eine Angst ernst zu nehmen, eine Gefahr richtig einzuschätzen, sich dem Paradigma der Furchtlosigkeit zu widersetzen und etwas nicht zu tun. Mut kann auch ganz passiv sein. Er kann bedeuten, anderen etwas zuzutrauen, ihnen zu vertrauen und offen für Veränderung zu sein. Wer mutig ist, achtet auf das Bauchgefühl und traut sich, für das einzutreten, was richtig oder wichtig ist. Mut kann bedeuten, etwas Unangenehmes anzusprechen, Feedback zu geben, Scham zu überwinden, unpopuläre Meinungen zu vertreten und so zu riskieren, sich unbeliebt zu machen. Es kann sehr viel Mut kosten, einem cholerischen Chef zu widersprechen, offen über die eigene psychische Erkrankung zu sprechen oder bei der Arbeit Nein zu sagen, einzugreifen, wenn jemand gemobbt wird oder sexistische „Witze“ von sich gibt.

Mutig zu sein bedeutet, sich immer wieder zu überwinden und das in Angriff zu nehmen, was einem*einer wirklich schwerfällt, über den eigenen Schatten zu springen, für die Sache. Um den Mut einer Person anerkennen zu können, müssen wir also ihre Geschichte kennen und verstehen, warum sie handelt. Es geht darum, aus der eigenen Komfortzone herauszutreten. Der idealisierte Heldenmut hilft dabei nicht weiter. Wir brauchen keine Helden, die im Alleingang das große Ding reißen. Wie wäre es stattdessen, wenn die nächste Mutprobe darin besteht, um Hilfe zu bitten?

Eine Figur nimmt ihren Schatten in den Arm

Take-aways

  • Mut ist in unserem Leben eine treibende Kraft. Er hilft uns dabei, Ängste zu überwinden und trotz Gefahren zu handeln.
  • Risiken zu ignorieren und den Helden mimen zu wollen, endet in schädlichem Übermut.
  • Statt Heldenmut zu feiern, können wir einen bedachten Mut in uns und anderen fördern, der für das einsteht, was uns wichtig ist.

Hinweis: Eine frühere Version dieses Artikels begann mit Felix Baumgartners Sprung aus der Stratosphäre. Aufgrund von Baumgartners rechter Positionierung möchten wir ihm diesen Platz nicht geben und haben den Text entsprechend angepasst.

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