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Personen, die Informationen miteinander austauschen
Case Study

Wie Wikipedia weiblicher wird

  • Text: Paul Fenski
  • Bild: Pia Salzer
  • Sparring: Laura Erler

Wikipedia ist ein sehr erfolgreiches Open-Source-Projekt, das vor allem auf der selbstorganisierten Arbeit Ehrenamtlicher beruht. Doch es hat ein Problem: Die Autor*innen sind mehrheitlich männlich. Ein Netzwerk innerhalb der Wikipedia-Community will das ändern.

Über Wikipedia

  • Organisation: Selbstorganisierte Redaktion aus Freiwilligen
  • Freiwillige: 5.200 Autor*innen
  • Umfang: 2,8 Millionen Artikel (deutschsprachige Wikipedia)
  • Gründung: März 2001 (zwei Monate nach der englischsprachigen Ausgabe)
  • Eigentümerin: Wikipedia Foundation (Non-Profit-Corporation und Eigentümerin des gesamten Internetportals Wikipedia)
  • Förderverein: Förderverein der deutschen Wikipedia-Community ist der Wikimedia Deutschland e.V.
  • Purpose: Laut Mitgründer Jimmy Wales ist das Ziel der Wikipedia, „eine frei lizenzierte und hochwertige Enzyklopädie zu schaffen und damit lexikalisches Wissen zu verbreiten“.

Frauen sind in der Wikipedia unterrepräsentiert

Die deutschsprachige Wikipedia gehört zu den meistbesuchten Websites Deutschlands1. Qualitativ ist sie den Enzyklopädien alter Schule, Brockhaus z.B., überlegen: Sie hat weniger Fehler, ist aktueller und detaillierter2. Dabei ist die Nutzung des Community-basierten Massenmediums kostenlos. Es wird ausschließlich über Spenden finanziert, die der Trägerverein Wikimedia verwaltet. Die etwa 5.200 Autor*innen3 der deutschsprachigen Wikipedia arbeiten ehrenamtlich.

Allerdings sind es vor allem Männer, die sich beteiligen. Nur jede zehnte Person, die sich in Wikimedia-Unternehmungen wie Wikipedia4 engagiert, ist eine Frau5. Dieser Gendergap (Geschlechterkluft) durchzieht auch den Inhalt der Enzyklopädie: Lediglich 17 Prozent der biografischen Einträge in der deutschsprachigen Wikipedia handeln von Frauen.

Selbstorganisiertes Freiwilligenprojekt

Die Gründe für den Frauenmangel bei Wikipedia sind struktureller Natur

Warum beteiligen sich so wenig Frauen?
Editorin Grizma, die sich seit über sieben Jahren in der Wikipedia engagiert, hebt zwei Punkte hervor: Zum einen ist die Wikipedia aus der Open-Source-Bewegung entstanden. Die war, insbesondere in ihrer Anfangszeit, stark männlich geprägt. Zudem haben Frauen weniger Zeit für ehrenamtliche Tätigkeiten als Männer, weil sie mehr Care-Arbeit leisten.

Warum gibt es so wenig biografische Einträge über Frauen?
Die strukturelle Benachteiligung von Frauen hat auch dazu geführt, dass über sie weniger veröffentlicht wurde. Auf einschlägige Literatur sind aber alle angewiesen, die einen Eintrag über eine historische Person schreiben möchten, der den Relevanzkriterien („nach sinnvollem Ermessen auch zeitüberdauernd von Bedeutung“) der Wikipedia genügt. Bei Frauen stellt sich das laut Grizma ungleich schwieriger dar.

Welche Folgen hat die strukturelle Diskriminierung für Wikipedia-Inhalte?

Die Auswahl von Bildern, Beispielen und Texten ist teilweise sexistisch. So hatte ein Editor beispielsweise den Eintrag über Strumpfhosen mit Bildern sogenannter Hooter Girls illustriert, deren Arbeitskleidung ein tief ausgeschnittenes weißes Top ist. Das ist in etwa so, als würde man zur Bebilderung einer Metallstange eine Erotiktänzerin beim Poledance zeigen.

Zudem haben Forscher*innen des Leibniz-Instituts für Sozialwissenschaften herausgefunden, dass Frauenbiografien häufiger Angaben zu Liebesbeziehungen und zur Familie enthalten als Männerbiografien. Das ist Grizma auch bei ihrer Arbeit als Editorin aufgefallen: „Implizit wird die Relevanz einer Frauenbiografie noch viel zu häufig mit Verweis auf einen Mann, den Ehemann, Vater oder Sohn begründet.“ 6

Die Forscher*innen schlussfolgern daraus, dass die Mehrheit der Autor*innen auf Wikipedia das männliche Geschlecht als Standard sieht und die Frau als Abweichung.

Zwei Diagramme, die die Geschlechterverteilung bei Wikipedia zeigen
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Drei nicht männliche Menschen, die einen Wiki-Eintrag schreiben

Wie kann Wikipedia diverser und inklusiver werden?

Der krasse Gendergap bei Wikipedia hat also strukturelle Gründe, die sich in verschiedener Form äußern. Für Wikipedia ist das ein Problem, denn dass so wenig Frauen mitarbeiten, wird häufig kritisiert.

Da die Ehrenamtlichen an der Wikipedia aber in erster Linie selbstorganisiert und auf freiwilliger Basis arbeiten, kann der Trägerverein Wikimedia wenig Einfluss auf die Autor*innenstruktur, die Organisationsformen und Inhalte der Wikipedia nehmen.

Der Wandel muss also von innen kommen. Nur wie?

Aus Erkenntnissen der Sozialforschung lassen sich einige Strategien ableiten. Demnach ist ein Grund für die geringe weibliche Beteiligung ein geringes Selbstvertrauen.7 Das wiederum lässt sich einer Studie zufolge bei Frauen viel stärker durch positives Feedback steigern als bei Männern. Außerdem fanden die Forscher*innen heraus, dass Frauen eher editieren, wenn sie dazu eingeladen werden.8 Das geringe Selbstvertrauen ist ebenfalls ein Symptom struktureller Benachteiligung. Was die selbstorganisierten Freiwilligen also konkret tun können, um Frauen zur Mitarbeit zu ermutigen, ist: sie einzuladen, sie zu unterstützen und ihnen Feedback zu geben.

Lösung: Vernetzen, unterstützen, umsetzen

FemNetz: Ein Netzwerk für Feminist*innen

Im Sommer 2020 hat Grizma FemNetz mitgegründet, ein Netzwerk für alle Menschen, die feministische Themen innerhalb der Wikipedia vorantreiben wollen. FemNetz hat sich zum Ziel gesetzt, „den Anteil der schreibenden und repräsentierten Frauen sowie von inter, trans und nonbinären Personen auf Wikipedia nachhaltig [zu] erhöhen“. Auf der Mailingliste, dem wichtigsten Kanal von FemNetz, stehen inzwischen über 100 Menschen. „Da wir insgesamt nur ein paar Hundert aktive Autor*innen sind, ist das eine Menge“, sagt Grizma.

Beim jährlichen Netzwerktreffen hat Grizma zum Beispiel einen Workshop zum Thema gendersensibler Kategorien9 auf Wikipedia moderiert, was laut ihrer Aussage viele dazu ermutigt hat, aktive Autorin zu werden.

Das WikiProjekt Frauen ist Übersichtsseite und Anlaufstelle für alle Frauen und Feminist*innen in der Wikipedia. Hier können sie sich zur Artikelarbeit und Qualitätssicherung verabreden. Dazu werden laufende Projekte10, Workshops und Unterstützungsformate aufgelistet. „Bisher haben uns darüber aber nicht viele Menschen gefunden“, sagt Grizma. Deshalb betreibt FemNetz zusätzlich Öffentlichkeitsarbeit in sozialen Medien: „Wir weisen dort zum Beispiel auf unsere Treffen hin und machen auf den Frauenmangel in der Wikipedia aufmerksam.“

Gegenseitige Unterstützung: FemSupport & Co.

„‚Schreiben in Wikipedia ist einfach.‘ Stimmt das? Tatsächlich gibt es Hunderte Hilfeseiten, Dutzende Video-Tutorials […]. Doch warum fühlen sich Frauen trotzdem in Wikipedia häufig so verloren, dass sie nach einem ersten Versuch entmutigt das Projekt verlassen?“, heißt es einleitend auf der Wiki-Seite FemSupport. Das Projekt wurde im März 2021 von Wikipedianer*innen ins Leben gerufen, um angehende Autor*innen in der Anfangszeit zu unterstützen. Inzwischen stellen sich sieben Frauen auf der FemSupport-Seite als Mentor*innen zur Verfügung.

Eine von ihnen ist Helga Wiki. Aktive Autorin ist sie seit Beginn der Coronapandemie. „Aber ohne die Frauen im FemNetz hätte ich nicht durchgehalten“, sagt sie. Ihr hat damals vor allem positive Bestärkung geholfen. „Das wollte ich auch leisten, vor allem für Frauen, denen die Wikipedia besonders fremd ist.“ Und weil sie selbst noch nicht so lange dabei ist, hilft sie bei FemSupport vor allem neuen Autor*innen.

„Ich habe mich zum Beispiel in eine festgefahrene Diskussion eingeschaltet“, sagt Helga Wiki. Es ging um den ersten Artikel einer neuen Autorin. Jemand hatte vorgeschlagen, ihn zu löschen. „Wir telefonierten, ich verstand ihr Problem und konnte sie beraten.“ Anschließend formulierte die Autorin ihren Beitrag um, fügte Einzelnachweise hinzu, entfernte Überflüssiges oder schlecht Belegtes. Daraufhin wurde der Text akzeptiert. „Hätten wir nicht gesprochen, hätte sie Wikipedia vielleicht frustriert verlassen.“

Projekte umsetzen: Edit-a-thons

Die Wikipedia soll auch inhaltlich weiblicher werden. Neben projektbasierter Einzel- und Gruppenarbeit organisieren die Autor*innen dafür sogenannte Edit-a-thons (Wortbildung aus engl. to edit und marathon). Das sind Veranstaltungen, bei denen Autor*innen gemeinsam an Artikeln arbeiten. „In der Regel nehmen wir uns ein bestimmtes Thema vor, hocken uns dann für ein oder zwei Tage zusammen und schreiben“, sagt Grizma.

Frauen in Rot (orientiert am englischen Vorbild Women in red) ist ein solches Projekt. Dabei geht es um Einträge, die es in anderen Sprachen gibt, nicht aber in der eigenen. Diese sind auf Wikipedia rot gefärbt – im Gegensatz zu den blauen Links, die auf einen anderen Artikel verlinken. Das Ziel ist, Rotlinks von Frauenbiografien zu beseitigen, „allerdings nicht durch Entfernen der Rotlinks, sondern durch Erstellen der entsprechenden Artikel“, schreibt die Nutzerin IvaBerlin in einem Blogbeitrag. „Wir nennen es Rotlinks bläuen“, sagt Grizma.

Der erste Edit-a-thon zum Projekt Frauen in Rot fand im Juli 2017 statt. Innerhalb eines Tages erstellten die Autor*innen 24 neue Artikel über Frauen. „Frauen und Männer beteiligten sich erfreulich paritätisch an der Veranstaltung“, so IvaBerlin. Inzwischen gibt es das Projekt in 32 Sprachen. Seit Juni 2017 ist der Anteil der Biografien, die von Frauen handeln, um zwei Prozentpunkte auf 17 Prozent gewachsen.

Drei Figuren, die zusammen eine Pyramide machen

Die Rolle der Wikimedia dabei

Das Organigramm von Wikimedia

Wikimedia Deutschland, der Trägerverein der Wikipedia, hat seine Statuten um den Punkt Diversität ergänzt: Es ist „die Aufgabe von Wikimedia Deutschland, Chancengerechtigkeit von Menschen zu fördern, Diskriminierungen zu verringern und sich aktiv für Diversität und gegen Ausgrenzung einzusetzen“. Auf dieser Basis kann der Verein das Netzwerk fördern und so den gewünschten Wandel unterstützen, ohne in die Selbstorganisation der Autor*innen einzugreifen.

Finanzielle Unterstützung

Wikimedia Deutschland übernimmt unter anderem die Kosten für Recherchemittel, wie Bücher oder Rezensionsexemplare, für Reisekosten bei Wikipedia-internen Treffen bis hin zur Kinderbetreuung während der Wikipedia-Konferenz. Auf einer entsprechenden Webseite erklärt der Verein, worauf es bei Förderanträgen für eigene Projekte ankommt, damit sie möglichst einfach und schnell erstellt werden können.

Organisatorische Unterstützung

Dass Frauen wenig Zeit haben, ist ein limitierender Faktor für ihre Beteiligung innerhalb der Wikipedia. Deshalb übernimmt Wikimedia Deutschland einige zeitraubende Aktivitäten. „Wir unterstützen zum Beispiel die FemNetz-Konferenz in allen organisatorischen Fragen wie Buchungen von Hotel, Tagungsräumen, Catering, technischer Ausstattung usw.“, sagt Julia Gebert von Wikimedia Deutschland. Ziel sei, dass sich die Freiwilligen so gut wie möglich auf die inhaltliche Gestaltung der Treffen konzentrieren können.

Strategische Unterstützung

Außerdem stehen die Frauen von FemNetz in engem Kontakt mit denen von Wikimedia Deutschland. „Es gibt regelmäßige Calls, um gemeinsam zu schauen, welche Angebote noch fehlen“, sagt Julia. Sie tauschen Wissen aus und entwickeln gemeinsam Strategien und Maßnahmen, um den Anteil von Frauen in der Wikipedia zu erhöhen. Grizma schätzt die vierteljährlichen Treffen sehr. „Wir lernen voneinander, das geht in beide Richtungen.“ So sprechen sie etwa auch über die Gleichstellung auf Vereinsebene. „Dort sind sie allerdings schon viel weiter“, sagt Grizma. Das Geschlechterverhältnis ist im Verein nahezu ausgeglichen.

Takeaways

  • Wikipedia beruht vor allem auf der selbstorganisierten Arbeit Ehrenamtlicher. Doch es hat ein Problem: Die Autor*innen sind mehrheitlich männlich. Das wirkt sich auch auf die Inhalte der Online-Enzyklopädie aus.
  • Die Arbeit von Menschen innerhalb der Wikipedia, die das ändern wollen, lässt sich so zusammenfassen: vernetzen, unterstützen und umsetzen. FemNetz ist ein Netzwerk, das auf Konferenzen für Verbindungen sorgt. FemSupport bietet Unterstützung vor allem beim Editieren. Projekte wie Frauen in Rot arbeiten daran, den Anteil der Frauenbiografien anzuheben.
  • Zusätzlich unterstützt der Trägerverein Wikimedia Deutschland die Arbeit der Ehrenamtlichen finanziell, organisatorisch und strategisch. Bei der Community kommt diese Art der Zusammenarbeit gut an.

FUßNOTEN

  • 1

    Im Januar 2022 war sie laut dem Onlineportal Similarweb auf Platz 6 der meistbesuchten Websites in Deutschland.

  • 2

    Nur in der Kategorie „Verständlichkeit“ schneidet der Brockhaus besser ab, weil die Artikel der Wikipedia für Laien teilweise zu „weitschweifig“ seien. Quelle: Süddeutsche Zeitung: Wikipedia – Besser als der Brockhaus (2010)

  • 3

    Hier sind nur aktive Autor*innen miteinbezogen, also alle, die mindestens fünf Bearbeitungen im Monat vornehmen.

  • 4

    Hiermit sind Unternehmungen (intern: Projekte) gemeint, die von Wikimedia ausgehen, also etwa Wikimedia Commons und Wiktionary. Mit Abstand die meisten Menschen arbeiten an der Wikipedia.

  • 5

    Für Deutschland gibt es keine verlässlichen Zahlen, wie viele Wikipedianerinnen Frauen sind, weil Nutzerinnen ihr Geschlecht nicht angeben müssen. Zuletzt wurde die Geschlechterverteilung 2018 erhoben. An der Studie nahmen 4.000 Personen teil, von denen 40 Prozent deutschsprachig waren. Quelle: Wikipedia: Community Insights 2018 Report/Survey design (2018)

  • 6

    Wobei das wiederum daran liegen kann, dass das Leben der Männer häufig besser dokumentiert ist.

  • 7

    Der wiederum am „aggressive[n], rechthaberische[n] und teils offen misogyne[n] Umgangston“ innerhalb der Wikipedia-Community liegen könnte. Quelle: s. Fußnote 6

  • 8

    Dazu haben Forscher*innen in den USA 40.000 aktive oder ehemalige Autor*innen von Wikipedia befragt. Quelle: Collier & Bear: Conflict, Confidence, or Criticism (2012)

  • 9

    Das sind verlinkte Oberbegriffe, z.B. Politiker*in statt Politiker.

  • 10

    Ein Beispiel für ein laufendes Projekt ist etwa „Gendergerechte Sprache“, bei dem sich Wikipedianer*innen zusammenge- schlossen haben, um das Gendern in der Enzyklopädie durchzusetzen.

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